Ein strahlendes Jahr 1 nach Tschernobyl

■ Das Heidelberger IFEU–Institut für Energie– und Umweltforschung legt Tschernobyl–Bericht vor / Auch eineinhalb Jahre nach dem Super–GAU noch unerwartet hohe Strahlenbelastung durch verseuchte Lebensmittel / Bodenstrahlung zieht einen kräftigen Strich durch zukünftige Grenzwert–Rechnungen

Von Mario Schmidt

Für die Elterninitiativen, Verbraucherberatungen und kritischen Wissenschaftler ist es eine verspätete Genugtuung: Die vermeintliche „Hysterie“ nach Tschernobyl, die Vorsicht der Konsumenten an der Ladentheke haben geholfen, die Strahlenbelastung der Bundesbürger durch den Tschernobyl–Fallout zu verringern. Agrarwirtschaftlichen Statistiken zufolge ging im Mai 1986 der Absatz von hochbelastetem Spinat um 90 Kopfsalat um 70 man der Milchindustrie, so wurde in den ersten Wochen nach dem Unfall nur halb soviel Frischmilch abgesetzt wie normalerweise üblich. Die Grenzwerte der Strahlenschutzkommission (SSK) haben sich hingegen als unwirksam erwiesen. Bei Milch befand die SSK direkt nach der Reaktorkatastrophe 500 Bq Jod–131 pro Liter als zulässig. Dieser Wert lag - wie auch die späteren Grenzwerte für radioaktives Cäsium - in den meisten Bundesländern weit über der tatsächlichen Belastung und konnte folglich die Strahlendosis milchtrinkender Bundesbürger nicht verringern. Dies gelang allein in Hessen, wo nur 20 Bq/l erlaubt waren und auch flächendeckend kontrolliert wurden. Für Blattgemüse gab die Kommission zwar einen Höchstwert, der in Stichproben häufig überschritten wurde, mangels weitreichender Kontrollen aber nicht verhinderte, daß höher belastetes Gemüse auf den Markt kam. Das Mißtrauen der Bürger gegenüber den Empfehlungen der Bundesregierung und der Strahlenschutzkommission und die Vorsicht beim Einkauf erwiesen sich hier als instinktiv richtig. Das Heidelberger IFEU–Institut für Energie– und Umweltforschung schätzt jetzt, nachdem zahlreiche Meßberichte und Meßergebnisse von verschiedenen Institutionen vorliegen, die tatsächlich aufgetretene Tschernobyl– Strahlenbelastung ab und kommt im Kern zu folgenden Ergebnissen: Durch das vorsichtige Verbraucherverhalten im Mai und Juni vergangenen Jahres fiel die Dosis durch Nahrungsaufnahme für die Schilddrüse im Schnitt um etwa ein Viertel geringer aus als unter normalen Konsumbedingungen zu erwarten gewesen wäre. Die Schilddrüse war durch die hohen Jod–131–Werte das am meisten belastete Organ. Der Beitrag durch Gemüse war nur ein Drittel und der durch Milch nur halb so hoch wie ursprünglich angenommen. Insgesamt betrug die Strahlendosis durch Tschernobyl letztes Jahr 190 mrem für die Schilddrüse. Zum Vergleich: die bundesdeutsche Strahlenschutzverordnung erlaubt beim Normalbetrieb von Kernkraftwerken im Jahr maximal 90 mrem. Umstritten ist die Vorgehensweise, statt der Dosis für einzelne Organe mit einer „effektiven“ Dosis zu rechnen. Dabei wird die Strahlenbelastung der Einzelorgane mittels gewichtender Faktoren zu einem Gesamtwert vereinheitlicht. Diese „effektive“ Dosis betrug etwa 22 mrem, davon stammten 15 mrem von kontaminierter Nahrung und knapp zwei mrem vom Einatmen der belasteten Luft unmittelbar nach dem Unfall. Doch dies sind alles Durchschnittswerte für das gesamte Bundesgebiet. In Süddeutschland traten Belastungen auf, die teilweise um den Faktor 10 oder mehr über den norddeutschen Werten lagen. Und selbst in Norddeutschland konnten erhebliche Belastungsschwankungen auftreten: durch verschiedene Verzehrgewohnheiten der Bürger, durch die unterschiedliche körperliche Strahlenempfindlichkeit oder schlicht und einfach durch den Zufall beim Griff ins Regal beim Händler. Für Hamburg hat das IFEU diese Schwankungsbreiten mittels statistischer Simulationen untersucht und dabei Bemerkenswertes festgestellt: Während der Mittelwert der Ganzkörperdosis für Erwachsene in Hamburg bei nur 5,3 mrem lag, erhielten immerhin noch zwei Prozent der Hamburger Strahlendosen von über 43 mrem. Jeder hundertste Säugling unter sechs Monaten wurde an der Schilddrüse mit über 430 mrem belastet. Der Mittelwert lag hier bei 112 mrem. Über die Größe dieser Schwankungsbreiten muß man sich stets im Klaren sein, wenn nur von Mittelwerten die Rede ist. Auf die Dosis kommt es an Eineinhalb Jahre nach dem Tschernobyl–Fallout ist bei den Lebensmitteln - allen Versicherungen aus Bonn zum Trotze - immer noch keine Normalität zurückgekehrt. Seit Jahresanfang liegen die Cäsiumwerte für verschiedene Grundnahrungsmittel konstant bei einigen 10 Bq/kg; das ist die Folge der Lagerhaltung von hochbelasteten Nahrungs– und Futtermitteln in der Landwirtschaft und im Handel. Für den August 1987 veröffentlichte das Bundesgesundheitsamt folgende für die Bundesrepublik repräsentative Cäsiumwerte: Roggengetreide 30 Bq/kg, Rindfleisch 24 Bq/kg, Schweinefleisch 10 Bq/kg und Milch immer noch 4 Bq/kg. Das sind zwar niedrige Werte im Vergleich zum Vorjahr, aber „normal“ sind sie keineswegs. 1983, also drei Jahre vor dem Unfall in Tschernobyl, lag die Cäsium–137–Belastung für Roggen bei 0,33 Bq/kg, für Rindfleisch bei 0,39 Bq/kg, für Schweinefleisch bei 0,63 Bq/kg und für Milch bei 0,15 Bq/kg. Nach dem Motto „Kleinvieh macht auch Mist“ addieren sich die niedrigen Werte denn auch zu merklichen Belastungen, zumal diese Grundnahrungsmittel in großen Mengen verbraucht werden. Ein Bundesbürger verzehrt im Durchschnitt 70 kg Getreide pro Jahr, aber nur ein Kilogramm Wildfleisch. Die durchschnittliche Nahrungsmitteldosis der Bundesbürger wird demzufolge 1987 etwa halb so hoch sein wie im Jahr des Super–GAU. Teilweise ist das auch die Folge des wieder weitgehend normalen Nahrungsmittelverzehrs. In den nächsten Jahren, wenn die Lagerhaltung von kontaminierten Lebensmitteln nachläßt und sich die Aufnahme der Radionuklide über die Pflanzenwurzeln in den Vordergrund schiebt, werden diese Belastungswerte stark sinken. Die IFEU–Transferrechnungen prognostizieren für Grundnahrungsmittel wenige Becquerel pro Kilogramm. Im südlichen Bayern können jedoch auch hier wieder fünf– bis siebenfach höhere Werte auftreten. Erschreckende Spätfolgen Insgesamt wird sich im Bundesdurchschnitt für die fünfzig Jahre nach dem Unfall eine effektive Tschernobyl–Dosis von etwa 140 mrem ergeben. Die Schilddrüsendosis wird sich während dieses Zeitraumes auf insgesamt etwa 310 mrem summieren. Aus diesen Mittelwerten läßt sich auch das Gesamtrisiko für die Bundesrepublik abschätzen: Demnach muß langfristig mit 4.700 bis 14.000 zusätzlichen Krebsfällen gerechnet werden. Diese Schätzungen stützen sich auf Risikoannahmen der kanadischen Wissenschaftlerin Rosalie Bertell, die 1986 den alternativen Nobelpreis für ihre Arbeiten zur Strahlenwirkung erhalten hat. Genetische Schäden und mögliche Erkrankungen außer Krebs sind bei diesen Zahlen noch nicht berücksichtigt. Trotzdem stellen solche Zahlen für die Strahlenschutzkommission „sicher keine Gefährdung“ dar (siehe Kasten). Ein wichtiges Ergebnis der neuen IFEU–Studie ist der Anteil der äußeren Bodenstrahlung an der gesamten Tschernobyl–Belastung; d.h. der Strahlung, der man beim Spazierengehen durch die am Boden abgelagerte Radioaktivität ausgesetzt ist. Während in den beiden ersten Jahren nach dem Unfall noch der Beitrag der verseuchten Nahrungsmittel am größten ist, wird die Bodenbelastung künftig den größten Anteil ausmachen. Über die fünfzig Jahre nach dem Unfall aufsummiert, wird die Bodenstrahlung etwa 75 Prozent der gesamten Tschernobyl–Belastung und damit weit mehr als die Nahrungsmittel liefern. Dieser Umstand wirft erneut die Frage auf, wie sinnvoll ein ausgeklügeltes Katastrophenmanagement, wie es derzeit von der EG und der Bundesregierung geplant wird, sein kann. Selbst mit den niedrigsten EG–Lebensmittelgrenzwerten ließe sich nach einem Unfall nur noch ein kleiner Teil der Strahlenbelastung vermeiden. Gegen die Bodenstrahlung kann nichts unternommen werden, wenn man ausschließt, alle Bürger zu evakuieren und den Boden in ganzen Staaten abzutragen. Nur wenn es keine atomaren Unfälle mehr gibt, verschwindet auch das vielzitierte „Restrisiko“ der Strahlenbelastung. Unfälle aber lassen sich solange nicht ausschließen, wie AKWs betrieben werden. M. Schmidt (Hrsg.): Das Strahlenrisiko von Tschernobyl. IFEU–Bericht 49, Wunderhorn–Vlg. 1987