Machtwechsel im Schriftstellerverband

■ Frische Hoffnung für den VS unter der neuen Vorsitzenden Anna Jonas / Von Martin Kempe

„Wir alle hatten Angst, hierherzukommen.“ Kurz vor der Wahl des neuen VS–Bundesvorstandes umriß Irmela Brender vom Landesverband Baden–Württemberg die Ausgangslage für die Bundesdelegiertenversammlung des Verbandes Deutscher Schriftsteller, die vom Donnerstag bis Sonnabend in Hamburg–Harburg stattfand. Angst, nichtreparable persönliche und politische Zerwürfnisse, drohende Spaltung, unsägliches Leiden Einzelner am Binnenleben eines Verbandes, der einst mit so großen Hoffnungen seinen Weg in die IG Druck und Papier gegangen war, kennzeichnen die Situation bis zu Wochenende. „Das Maß des Erträglichen ist überschritten“, begründete das zurückgetretenen Vorstandsmitglied Jochen Kelter seinen Rückzug, den er vor zweieinhalb Monaten zusammen mit dem bisherigen VS–Vorsitzenden Hans Peter Bleuel und drei weiteren Vorstandsmitgliedern medienwirksam in Szene gesetzt hatte. Jetzt sind Erleichterung, die skeptische Hoffnung, der Bankrott des Verbandes Deutscher Schriftsteller sei vielleicht noch im letzten Augenblick abgewendet worden, spürbar. Hoffnung sogar bei manchen der Unterlegenen, die ganz wesentlich den VS in den letzten sieben Jahren dort hingebracht haben, wo er vor dieser Konferenz stand: am tiefsten Punkt der Krise, wo es nur noch ums Überleben ging oder die Fortexistenz als pure bürokratische Hülle für die Pflege des Biblio theksgroschens. Niemand hatte diesen Verlauf der Konferenz vorausgesehen, niemand hatte eigentlich an die Möglichkeit der Rettung des Verbandes geglaubt. Das sie nun doch, wenn auch eher als ungewisse Hoffnung besteht, ist im wesentlichen einem Mann zu verdanken: Günter Grass. Günter Grass ist einer der ganz wenigen Literaten von Rang und Namen, die dem VS in den letzten Jahren trotz aller Zerwürfnisse treu geblieben sind. Die aus der DDR emigrierten Schriftsteller waren schon vor Jahren von dem VS–Vorstand unter Bernd Engelmann aus dem Verband vertrieben wollen, weil ihnen die opportunistische Anbiederung gegenüber dem DDR–Schriftstellerverband unerträglich war und sie ihre Vorstellungen über die Verteidigung der Menschenrechte und der demokratischen Freiheiten nicht den Erfordernissen der literarischen Ost–West–Diplomatie opfern wollten. Die brühmten Vertreter der Gründergeneration des VS: Böll, Lenz, Drewitz, sind entweder tot oder haben sich abgewandt, als beim VS–Kongreß vor vier Jahren in Saarbrücken der Sachbuchautor Peter Bleuel von einer linksdogmatischen Politikgefolgschaft gegen die Kandidatin Ingeborg Drewitz durchgeboxt wurde. Die Ära Bleuel dauerte vier Jahre - Jahre des kulturellen und literarischen Substanzverlustes des Verbands und dessen erbarmungsloser Fraktionierung, deren Höhepunkt jener VS–Kongreß im März 1986 war, der in Harburg als „Schlammschlacht von Berlin“ allgegenwärtig war. Damals war die Berliner Lyrikerin Anna Jonas gegen den erneut kandidierenden Hans Peter Bleuel knapp unterlegen. Jetzt ist sie ohne Gegenkandidatur mit Dreiviertelmehrheit zur neuen Vorsitzenden gewählt worden. Ihr zur Seite stehen unter anderem Johano Strasser, Josef Reding und Günter Grass als einer der vier Beisitzer. Günter Grass war, obwohl kein Delegierter, an allen drei Tagen der Konferenz anwesend. Gleich zu Beginn griff er ein, wies er in eindringlicher Rede darauf hin, daß an diesem Wochenende über die weitere Existenz des VS zu entscheiden sei. Die Entwicklung des VS sei in den letzten Jahren in eine „falsche Richtung“ gegangen. Er habe sich „mehr und mehr nicht zu Hause“ gefühlt, denn im VS sei nicht mehr zur Sprache gekommen, um was es eigentlich gehe: um Literatur. Auch die Entwicklung hin zur IG Medien, in die der VS als Teil der IG Druck und Papier einbezogen ist, berge Gefahren, weil die zukünftige Großorganisation nach den bisher vorliegenden Satzungsentwürfen zu zentralistisch konzipiert sei. Der von der IG Druck und Papier erarbeitete Satzungsentwurf sei vielleicht für eine Gewerkschaft herkömmlichen Typs richtig. Dem VS aber „nimmt sie die letzte Spontaneität“. Es sei unvorstellbar, daß ein Schriftstellerverband bei irgendwelchen Vorständen anfragen müsse, bevor er mit allgemein– oder kulturpolitischen Erklärungen an die Öffentlichkeit treten dürfe. Grass hatte sich eine Kritik zueigen gemacht, die schon vor Monaten im Berliner Landesverband des VS von einer Gruppe um die jetzt neugewählte Anna Jonas erarbeitet worden war. „Wider das Verschwinden des VS in der IG Medien“ war das Papier der Berliner betitelt, das nach seiner Veröffentlichung im Verbandsorgan „feder“ bei jenen, die sich besonders viel auf ihre gewerkschaftstreue Gesinnung zugutehalten, zu heftigen Reaktionen geführt hat: von „ignorant“ bis „anti–gewerkschaftlich“ reichte die Palette der Vorwürfe an die „ewigen Nörgler“ aus Berlin, denen das Gewerkschaftliche allein deshalb zuwider sei, weil es eben gewerkschaftlich sei. Tatsächlich hat sich die Berliner Satzungskritik im VS während des Harburger Kongresses geradezu frappierend eindeutig durchgesetzt. Alle Berliner Anträge auf Änderung des Satzungsentwurfs, die auf eine Ausweitung autonomer Rechte der neugebildeten Fachgruppen (der VS ist eine davon) innerhalb der IG Medien hinauslaufen, wurden von der Konferenz nahezu einstimmig angenommen. Das kommende Jahr wird zeigen, ob sich die Forderungen des VS nach erweiterter Selbstorganisation durchsetzen lassen. Günter Grass und ein Großteil der bisherigen Oppositionsgruppe des Berliner VS machen davon ihr Verbleiben im Verband abhängig. War der Verlauf der Satzungsdiskussion schon überraschend genug, so brachte die durch den vorzeitigen Rücktritt von fünf früheren Vorstandsmitgliedern notwendige Vorstandwohl eine Sensation. Schon während der beiden ersten Kongreßtage hatte Bernd Engelmann, die graue Eminenz der bisherigen Vorstandsmehrheit, Günter Grass zu überreden versucht, mit ihm gemeinsam als Beisitzer für den Vorstand zu kandidieren - gleichsam als Zeichen für das Ende des Fraktionsunwesens im VS. Doch Günter Grass bleib hart: dis bisherige Mehrheit sei verantwortlich für den „erbärmlichen Zustand“ des VS. „Jetzt muß ein Wechsel stattfinden“, ohne falsches Harmonisieren von Gegensätzen. Und, nachdem er lange gezögert hatte: „Ich kann mich meiner Verantwortung nicht entziehen.“ Mit Anna Jonas, der neuen Vorsitzenden, Günter Grass und Johano Strasser sind nun also drei „Berliner“ im neuen Bundesvorstand des VS. Josef Reding aus Nordrhein–Westfalen und Angela Baumann aus Nürnberg wurden zu stelllvertretenden Vorsitzenden gewählt. Der Übersetzer Klaus Birkenauer und Karl Heinz Frank sind neben Strasser und Grass Beisitzer im siebenköpfigen VS–Vorstand. Allein Karl Heinz Frank bekannte sich dazu, bislang die frühere Mehrheit im VS unterstützt zu haben, ohne jedoch seine Aufgabe im neuen Vorstand als Opposition zu verstehen. Der neugewählte Vorstand des VS ist ein „literarischer“ Vorstand. Die neue Richtung ist ein Signal an die Ausgetretenen, Weggebliebenen oder gar nicht erst Eingetretenen, jetzt ihrerseits wieder auf den VS zuzugehen. Denn von der Notwendigkeit dieses Verbandes, auch im Rahmen der zukünftigen Mediengewerkschaft, ist auch der neue Vorstand angesichts der rasanten Konzentration im Medien– und Verlagswesen überzeugt. Es kommt allein auf die Bedingungen des Zusammenschlusses an. Die „grundsätzlichen Unterschiede zwischen Phantasieproduktion und Industrieproduktion“, so Anna Jonas, dürften nicht durch eine Großorganisation unterstückt werden. „Wir müssen auch Einzelgänger bleiben können“, variierte Günter Grass auf der abschließenden Pressekonferenz jenes Wort von der „Einigkeit der Einzelgänger“, das am Beginn des Weges der Schriftsteller in die Gewerkschaft stand, und von dem nur eine Zwangseinigkeit übrig zu bleiben droht, wenn der neugewählte VS– Vorstand mit seinen Vorstellungen in der IG Medien scheitert. Sollte dies geschehen, so schloß Grass nicht aus, „daß wir in einem Jahr nach Alternativen suchen müssen“.