Das Sitzenbleiben macht wieder Schule

■ Sitzenbleiberquote sinkt nicht mehr - im Gegenteil: Seit der Wende wieder leichter Anstieg / Berlin ist „Hochburg“ / „Versagerquote“ in Gesamtschulen hat sich verdoppelt / Grundschulen im Gegentrend / Psychosomatische Erkrankungen von Schülern nehmen zu / Höherer Schulabschluß durch sitzenbleiben?

Von Benno Pilardeaux

Niemand spricht über sie: von den rund 250.000 Schülern, die in diesen Wochen das vergangene Schuljahr wiederholen müssen. Ruft man bei den offiziellen Stellen an, etwa der zuständigen Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW), der SPD oder den Grünen, so heißt es stets stereotyp, daß das Sitzenbleiben kein Thema in der aktuellen bildungspolitischen Diskussion sei. Tatsache ist aber: Während infolge der Schulreformen der siebziger Jahre die Sitzenbleiberquote bis zum Ende dieses Jahrzehnts kontinuierlich sank, steigt sie seit der Wende wieder leicht an. Zahlen des Bundesamtes für Statistik (BfS) belegen diesen Fakt eindrucksvoll: Im Bundesdurchschnitt bleiben die Realschüler am häufigsten sitzen. 5,7 Schüler, haben 1985 das „Klassenziel“ nicht erreicht. Weniger häufig „versagen“ die Gymnasiasten. Allerdings hat sich deren Sitzenbleiberquote seit Mitte der siebziger Jahre auch nicht mehr wesentlich verringert. Alljährlich „erwischt“ es etwa 76.000 von ihnen. Beständig steigt die „Schulversagerquote“ in den Hauptschulen: Sie erreichte im Schuljahr 84/85, seit zehn Jahren zwar leicht aber stetig steigend, drei Prozent. Das entspricht einer Zahl von etwa 45.000 Schülern. Noch vor zehn Jahren war das Sitzenbleiben in den Gesamtschulen nahezu unbekannt. Deshalb überrascht gerade an diesem Schultyp die neuere Entwicklung: Die Sitzenbleiberzahl stieg im Schuljahr 84/85 auf fast 4.000 Schüler an. Das sind im Bundesdurchschnitt immerhin 1,9 Damit hat sich die „Schulversagerquote“ in den Gesamtschulen seit 1975 etwa verdoppelt. Sitzenbleiben als „pädagogische Maßnahme“? Nun ist es also statistische Wahrheit: Das Sitzenbleiben, von den meisten Schulbehörden weiter als „pädagogische Maßnahme“ be trachtet, macht immer noch Schule. Und dies, obwohl sich die schädigende Wirkung von Leistungsdruck und Bestrafung auf die seelische Gesundheit, vor allem auf die von Kindern, schon lange als gültige Auffassung in der Psychologie etabliert hat. Als Beleg sei hier nur der Bielefelder Schulforscher Professor Klaus Hurrelmann angeführt, der im Juli dieses Jahres eine Studie zu den psychosomatischen Erkrankungen von Kindern veröffentlichte. Hurrelmann bewertet das Sitzenbleiben als „hilflose Reaktion“ einer eher ratlosen Schulpädagogik. Sitzenbleiben, das sei keine „Ehrenrunde“, sondern hinterlasse langfristig einen „Knacks“ im Selbstwertgefühl, kritisierte der Schulforscher in einem Gespräch gegenüber der taz. Der Aspekt der Verweigerung findet bei den Schulpsychologen, auch bei Hurrelmann, allerdings wenig Beachtung: „Leistungsverweigerung ist eine der wenigen Möglichkeiten des sprachlosen Schülers, sich gegen Schule und Leistungssystem sowie elterliche Autorität aufzulehnen“, betont Detlev Coy vom neugegründeten „Institut für Kindheit“ in Berlin. Im Gegensatz zu allen anderen Schultypen, erscheint die Situation in den Grundschulen geradezu paradiesisch. Die Fälle von „Schulversagen“ haben sich dort seit den Reformen der siebziger Jahre etwa halbiert. Grund: in vielen Bundesländern wurde inzwischen die „Regelversetzung“ in den ersten vier Klassenstufen eingeführt. Vergleicht man die Sitzenbleiberquoten der einzelnen Bundesländer miteinander, so stellen sich überraschende Unterschiede heraus: Während ein Gesamtschüler aus Hessen oder Hamburg praktisch immer regelversetzt wird, ergeht es den Berlinern ungleich schlechter: von den 4.000 Gesamtschulsitzenbleibern bundesweit, „sitzen“ allein die Hälfte in Berlin. Der Anstieg der Sitzenbleiberzahl in den Gesamtschulen wird in Lehrerkreisen meist damit erkärt, daß sich dieser Schultyp immer mehr in einer scharfen Konkurrenz zum dreigegliederten Schulsystem befindet, und genö tigt ist, dieselben Leistungen aufzubieten wie das Gymnasium mit seiner relativ homogenen Schülerschaft. Diese Konkurrenz ist es dann, die die Gesamtschullehrer auch verstärkt dazu bringt, den Eltern „schwächerer“ Schüler eine Wiederholung des Schuljahres anzuraten. Hauptschule wird zur „Restschule“ Neben den Gesamtschulen kommt es vor allem in den Hauptschulen zu „Nichtversetzungen“: 12,9% der Berliner Hauptschüler müssen nach den neuesten Zahlen des Schulsenats das kommende Schuljahr wiederholen. Noch schlechter sieht es bei den ausländischen Schülern Berlins aus: Knapp die Hälfte von ihnen verläßt die Schule ohne Abschluß, das jedenfalls dokumentiert die Berlin–Statistik von 1983. Wie minimal die Chancen eines Schülers ohne Abschluß sind, zumal wenn es sich um einen Ausländer handelt, verdeutlicht die Erziehungswissenschaftlerin Dorothee Gloy von der Universität Berlin in ihrer Sitzenbleiberstudie vom März 86, in der sie Zahlen einer bisher unveröffentlichten Erhebung der Industrie– und Handelskammer (IHK) anführt: Nur einem Bruchteil (3,6 Prozent) aller Hauptschulentlassenen ohne Schulabschluß war es 1985 gelungen einen Ausbildungsvertrag mit der Berliner IHK abzuschließen. Was sind die Ursachen dieser neueren Entwicklung? Der Schulexperte des Max–Planck–Instituts für Bildungsforschung (MPI) in Berlin, Dr. Jürgen Baumert, erklärte dazu gegenüber der taz: Was die Hauptschulen betreffe, so nehme durch die steigende Abwanderung der „besseren“ Schüler auf die Real– bzw. die Gesamtschulen der „Bodensatz“ der „schlechteren“ Schüler in den Hauptschulen zu. Je mehr also die Hauptschule zur „Restschule“ werde, desto stärker steige dann auch an diesem Schultyp die Sitzenbleiberquote. Damit sei auch deren hohe Zahl in Berlin erklärbar. Obwohl die Sitzenbleiberquote, wie bereits angeführt, wieder leicht zunimmt, steigt die Zahl der Schüler, die das Abitur oder den Realschulabschluß erreichen, kontinuierlich an. Mehr qualifizierte Schulabschlüsse durch Sitzenbleiben also? Dr. Baumert stützt diese Ansicht: „Seit der Öffnung der Hauptschulen in Nordrhein–Westfalen beispielsweise, mit der ein zehntes Schuljahr und damit die mittlere Reife ermöglicht wurde, wiederholen die Schüler lieber ein Schuljahr, statt die Schule mit einem geringerwertigen Abschluß zu verlassen.“ Daraus sei zu schließen, daß mit einer höheren Sitzenbleiberquote gleichzeitig mehr Schüler einen qualifizierten Schulabschluß erreichen. Das Sitzenbleiben hat dennoch wenig Sinn, so jedenfalls lautet der Konsens in der gegenwärtigen Schulforschung. Die Experten sind sich darüber einig, daß durch das Sitzenbleiben weder das Leistungsniveau eines Schülers auf Dauer an das seiner „erfolgreichen“ Mitschüler angepasst wird, noch dazu beiträgt seine soziale Lage so zu verbessern, daß sie sich der „Erfolgreichen“ angleicht. Und die Wahrscheinlichkeit, daß so eine Angleichung durch spezielle Förderungsmaßnahmen wie z.B. Hausaufgabenhilfe zu erreichen wäre, wird in Fachkreisen als gering eingeschätzt. Zu dieser Einsicht gelangten einige unserer skandinavischen Nachbarn offenbar schon weitaus früher: In Norwegen und Dänemark gibt es keine Sitzenbleiber.