I N T E R V I E W „Seine Heiligkeit ist nicht verantwortlich“

■ Kelsang Gyaltsen, Repräsentant Seiner Heiligkeit der Dalai Lama in Europa, über die Ursachen der Spannungen im Tibet

taz: Wie erklären Sie sich, daß es gerade jetzt zu dieser breiten Protestbewegung im Tibet kommt? Kelsang Gyaltsen: Seit der chinesichen Besetzung ist Tibet nie zur Ruhe gekommen. Bis 1979 allerdings war Tibet von den chinesischen Herrschern von der Öffentlichkeit abgeschirmt worden. Diesmal gelangten die Nachrichten an die Weltöffentlichkeit, weil es inzwischen eben Touristen im Tibet gibt. Aber sicher handelt es sich heute um eine der größten Protestbewegungen seit 1959 . Sehen Sie einen Zusammenhang zwischen den Unruhen und dem Volkskongreß, der in drei Wochen in Peking eröffnet wird? Ich kann keinen direkten Zusammenhang sehen. Wir wissen andererseits, daß am 24. September - drei Tage vor dem Ausbruch der Unruhen - die chinesischen Behörden im Tibet eine Massenversammlung abgehalten haben, an der 15.000 Tibetaner zwangsweise teilnehmen mußten. Bei dieser Massenversammlung haben sie elf Tibetaner öffentlich verurteilt und zwei vor den Versammelten hingerichtet. Die Regierung in Peking beschuldigt den Dalai Lama, die Proteste angezettelt zu haben... Man kann unmöglich Seine Heiligkeit für die Unruhen verantwortlich machen. Der eigentliche Grund für die Unruhe ist die Präsenz der Chinesen im Tibet. Die Demonstranten haben die Chinesen aufgefordert, nach China zurückzukehren, und sie haben Unabhängigkeit und Freiheit für ihr Land gefordert. Gibt es Kontakte zwischen der Exil–Regierung und den Mönchen im Tibet? Seit 1979 können die Exil–Tibetaner ihre Verwandten im Tibet besuchen und umgekehrt. Im Lauf der letzten Jahre waren viele Exil–Tibetaner zu Besuch im Tibet und viele Tausende von Tibetanern des Tibet sind zu Pilgerreisen nach Indien (wo der Dalai Lama im Exil lebt, A.d.R.) gekommen. Aber sicher hat Seine Heiligkeit, der Dalai Lama, keine Handlungsanweisungen gegeben. Die offizielle chinesische Nachrichtenagentur versucht das Ganze zu einer Angelegenheit von Mönchen zu machen. Die Mönche haben die Demonstrationen zwar angeführt. Doch es waren Tausende von Tibetanern daran beteiligt. Überdies hat sich Seine Heiligkeit immer für einen gewaltlosen Kampf für die Freiheit des Tibet eingesetzt. Welche Chancen sehen Sie dafür, daß sich jetzt etwas verändert? Erstens muß man sehen, daß es die Chinesen in fast vier Jahrzehnten Besatzung nicht geschafft haben, die Probleme des Tibet zu lösen. Die Tibetaner lehnen die chinesische Herrschaft nach wie vor ab. Zweitens hat China immer versucht, Probleme im Tibet mit Gewalt zu lösen. Dieses Vorgehen hat unter den Tibetanern seit der chinesischen Besatzung 1,2 Mio. Tote gefordert, das Land aber einer Befriedung nicht näher gebracht. Die Regierung muß mit offenem Geist und mit dem Willen zu Verständigung ernsthafte Verhandlungen mit Seiner Heiligkeit aufnehmen. Interview: Thomas Schmid