Die Realität

■ Stichwörter zu einem politischen Lexikon

In der Politik gibt es zwei Grundpositionen in bezug auf die Realität. A.) Man nimmt sie zur Kenntnis. - B.) Man ersetzt sie durch ein Wunschbild. A.) Wenn man sie zur Kenntnis nimmt, besteht die Gefahr, daß man im Verlauf einer manchmal unmerklichen Entwicklung von ihr beschmutzt wird. Die Realität ist nämlich nicht stubenrein. Die Seele aber - und entgegen allgemein verbreiteten Vorstellungen besitzen auch Politiker eine Seele, manchmal sogar in Übergröße - will unbedingt sauber bleiben. Weil die Realität sich den schönen Ideen der Politiker nicht anpaßt, muß der Politiker seine Prinzipien der Realität anpassen. Er beginnt mit ihrer Anerkennung, dann akzeptiert er sie und landet am Ende bei ihrer Verherrlichung. Der durch diesen Prozeß bedingte Seelenschmerz schlägt sich zum Beispiel in Magengeschwüren nieder oder verursacht Amnesie. Zwei Beispiele für Fall A.): 1.) Nach der ungarischen Revolu tion 1956 wurde Janos K., der allgemein als Verräter der Revolution betrachtet wurde, zunächst von der ganzen Bevölkerung abgelehnt. Später erkannte sie, obwohl das Kadar–System an den Teilnehmern des Volksaufstandes eine beispiellos grausame Rache geübt hat, den neuen Chef, im Vergleich zu den Erz–Stalinisten, als das kleinere Übel. Deshalb schloß die Bevölkerung mit K. und seiner Partei einen Kompromiß, der ökonomische und politische Erleichterungen brachte. Eine Nation kann aber nicht so lange mit schlechtem Gewissen leben wie der Einzelmensch. Deshalb wurde der Kompromiß mit großem seelischem Einsatz veredelt: man liebte K. Aber die Liebe geht durch den Magen und das Gedächtnis der Völker ist von der Preisbewegung nicht unabhängig. Die ökonomische Krise kreiert die Rolle des betrogenen Liebhabers. Wenn der Geliebte den Fleischpreis erhöht, muß er den Liebesentzug in Kauf nehmen. 2.) Einige grüne Politiker er kennen, daß die grüne Partei nicht regierungsfähig ist, solange sie den sofortigen Ausstieg aus der NATO und aus der Atomenergie fordert. Die prinzipielle Forderung bleibt in Kraft, aber nicht auf der Tagesordnung. „Die Zeitfrage ist doch sekundär.“ (Joschka F.) Der Ausstieg kann beliebig verschoben werden, also bis zum Sanktnimmerleinstag. Die Anerkennung der Realität bewegt sich in die Richtung ihrer Annahme, auch die ersten taktisch–theoretischen Argumente zu ihrer Akzeptanz treten auf. „Würde der NATO–Ausstieg, wenn man ihn realisiert, zu einer Verhärtung der Blöcke oder zu einer Blockauflösung führen?“ - fragt F. Und seine Antwort: „Ich glaube, er würde zu einer Verhärtung führen, und daher problematisiere ich dies.“ Wenn aber der Ausstieg die Blöcke stärkt, dann muß man eben drin bleiben, um sie zu schwächen. Der Status quo wird nicht nur anerkannt, sondern auch angenommen. Was aussteht, ist seine Verherrlichung. B.) Wenn man die Realität in der Politik durch ein Wunschbild ersetzt, kehrt die aus der Tür hinausgeworfene Wirklichkeit durch das Fenster zurück. Auch die schönsten Ideen können nicht auf das Brot geschmiert werden: dafür ist die Butter geeigneter. Früher oder später entlarven sich die strahlenden Prinzipien als verdorrte Dogmen, die Kluft zwischen ihnen und der Wirklichkeit wird zunehmend unüberbrückbar. Die Partei, die auf ein Wunschbild gesetzt hat, findet auch für ihre realistischen Forderungen keine Anhänger mehr. Die Gläubigen von gestern sind die Ketzer von heute: sie zahlen ihre Enttäuschung dem geplatzten Propheten heim. Für Fall B.) bieten sich die stalinistischen und poststalinistischen Regierungen mit ihrem ständigen Versprechungswahn bereitwillig als Beispiele an. - Nicht von dieser Welt ist auch die Position mancher Grüner, die aus Prinzipientreue die Regierungstreue ab ovo und für alle Ewigkeit ablehnen. Wenn sich der Boden der Tatsachen ihren erhabenen Prinzipien nicht anpassen will, gehen sie in den Kopfstand.Summa summarum: In der Politik ist die Realität ein Störfaktor. Die Menschen, die professionell mit ihr befaßt sind, sind nicht in der Lage, diese Grundsituation zu ändern, weil sie die Realität nur als Mittel auffassen, um die Menschen zu gewinnen (das heißt: sie zu manipulieren), oder um ihre makellosen Prinzipien zu verwirklichen (das heißt: die Realität selbst zu manipulieren). Die Politik ist eine zu ernste Sache, als daß sie den Politikern überlassen werden darf. Die Realität hat nur dann eine Chance, kein Störfaktor in der Politik zu sein, wenn sie samt ihrem Schmutz anerkannt, aber nicht akzeptiert wird und wenn nicht mehr eine bestimmte, mit lügnerischen Spielregeln versehene Kaste sich mit ihr beschäftigt, sondern solche Leute, die... (Das Manuskript wurde hier zufällig abgeschnitten und weggeschmissen. Wir bitten den ehrlichen Finder, die fehlenden Zeilen zuzuschicken, daß wir sie in unserer nächsten Ausgabe veröffentlichen können.) Istvan Eörsi