Wieviele Divisionen hat der Dalai Lama?

■ Peking benutzt den Aufstand, einen „harten Kern“ der Mönche auszugrenzen

Keine, wäre die erste Antwort, aber sie stimmt nicht, wie die Aufstände in Tibet beweisen. Der Dalai Lama hatte im vorigen Jahr sein Exil in Indien verlassen, war durch die Welt gereist, überall mit Interesse empfangen. In der BRD war er auch und außerdem in den USA. Worüber er dort mit hohen Politikern sprach, worum er bat, liegt auf der Hand: Unterstützung zu gewinnen für Tibets Kampf gegen die chinesische Vorherrschaft. Das wurde in Peking heftig kritisiert, und diese Kritik soll eine der Ursachen sein, daß die Mönche in Lhasa auf die Straße gingen und die Polizeistation anzündeten. Daraus ist vorübergehend inzwischen eine Art Bürgerkrieg geworden, zu dessen Unterdrückung chinesische Militäreinheiten eingeflogen wurden. Hier ein Bericht unseres Korrespondenten: Peking (taz) -Die Bilanz der Straßenschlacht zwischen tibetanischen Demonstranten und chinesischen Sicherheitskräften am 1.10.: sechs Tote, über ein Dutzend Schwerverletzte, eine zerstörte Polizeiwache, etliche ausgebrannte Autos, zerborstene Fensterscheiben. Eine politische Analyse zu versuchen, fällt noch schwer. Für die mit der Vorbereitung des 13. Parteikongresses beschäftigte Pekinger Führung kamen die Proteste in Tibet überraschend. Die parteioffizielle Volkszeitung brauchte zwei Tage, um eine Sprachregelung für die Vorfälle in Lhasa zu finden. Erst am dritten Tag wurden Einzelheiten und Fotos veröffentlicht. Acht Jahre eines erfolgreichen wirtschaftlichen Aufbaus, einer Liberalisierung im religiösen und kulturellen Bereich und die Bereitstellung großer Summen für den Wiederaufbau und Erhalt eines Teils der in der Kulturrevolution barbarisch zerstörten Klöster hatten der politischen und religiösen Opposition den Boden entzogen. Umso unerwarteter kam es am Nationalfeiertag, dem 38. Jahrestag der Gründung der Volksrepublik China, zu den schwersten Zusammenstößen in Tibet seit dem Beginn der Politik der Öffnung im Jahr 1978. Noch läßt sich nicht abschätzen, ob die Ereignisse eine neue Phase der Tibet–Politik Pekings einleiten werden, unübersehbar ist jedoch, daß die Partei eine neue politische Offensive eröffnet hat. Einige direkte Folgen der Demonstration sind bereits erkennbar: 1.) eine Intensivierung der Öffentlichkeitsarbeit. 2.) Die Politik Pekings gegenüber dem Dalai Lama war bisher von größter Vorsicht und Zurückhaltung geprägt. Gleichzeitig wurden in den vergangenen Jahren wiederholt Rückkehrangebote an den Dalai Lama gerichtet, der als religiöses Oberhaupt ohne politische Funktion, auf politische Aktionen verzichtend, den Chinesen durchaus willkommen wäre, da Peking in ihm eine wichtige Integrations– und Legitimationsfigur erkennt. Neu sind daher die ungewohnt scharfen chinesischen Attacken gegen den Dalai Lama, der für die Demonstrationen verantwortlich gemacht wird. Dahinter steht weniger der Versuch, der Öffentlichkeit ein einfaches Erklärungsmuster (“Anstiftung von außen“) anzubieten, als mehr die Absicht, Druck auf den Dalai Lama auszuüben, sich in die chinesische Tibet–Politik nicht einzumischen. 3.) Den Teilnehmern an den Demonstrationen wurde härteste Bestrafung angekündigt. Bisherige Erfahrungen mit den Reaktionen auf solche „Zwischenfälle“, z.B. nach den Studentendemos im Dezember 1986, lassen vermuten, daß gegenüber der Opposition eine härtere Gang art eingeschlagen wird. Zugleich wird allerdings versichert, daß „die Politik der Reform und der Religionsfreiheit“ fortgesetzt werden wird. Obwohl die von den Mönchen angestifteten Aktionen der Partei große Schwierigkeiten machen, nach außen das Bild vom heilen Tibet zu vermitteln, gibt es die Vermutung, daß die Zusammenstöße der chinesischen Führung ganz gelegen kamen. Nun ist es möglich, die Opposition als gewalttätige Randalierer zu brandmarken. Mit dem Schreckbild brennender Häuser und Autos werden eingewurzelte Ängste der Bevölkerung vor erneuten Zeiten des „Chaos“ mobilisiert, um eine Solidarisierung mit den Demonstranten zu verhindern. Tibetanische Studentinnen am „Institut für Nationalitäten“ in Peking vermuteten gestern in einem Gespräch mit der taz, daß in der Folge die politische Bewegung gegen die chinesische Bevormundung in Tibet insgesamt einen Rückschlag erleiden werde. Thomas Reichenbach Letzte Meldung Berlin (taz) -Hierzu wird noch gemeldet, die chinesische Regierung habe am Mittwoch Berichte über Unruhen in der zweitgrößten Stadt Tibets, Xigatse, dementiert. In Massenversammlungen käme eine öffentliche Meinung zu Tage, die diese „Aufstände von einer Handvoll Separatisten“ scharf verurteile. Xigatse, 40.000 Einwohner, 350 Kilometer von Lhasa entfernt, ist die Hochburg des Panchen Lama, des zweitwichtigsten religiösen Führers nach dem Dalai Lama. Auch er lebt im indischen Exil, gilt jedoch als Verbündeter der Regierung in Peking. Insgesamt sind die Informationen aus Tibet, zumeist von Touristen herausgeschmuggelt, soweit sie nicht der chinesischen Sprachregelung entsprechen, sowohl widersprüchlich wie nicht nachprüfbar. So sind nach offiziellen Angaben vor einer Woche sechs Menschen in Lhasa getötet worden, nach Augenzeugenberichten mehr als doppelt soviele.