Der Amnestie eine Chance

■ Die Fraktion der Grünen diskutiert den Deutschen Herbst 1977 und die Amnestie für politische Häftlinge / Unter anderem mit Astrid Proll und Martin Walser

Aus Bonn Oliver Tolmein

Die Bundestagsfraktion der Grünen kommt heute in Bonn zu einer Schwerpunktsitzung zusammen, die sich mit dem Deutschen Herbst 1977 und der Amnestieforderung für politische Gefangene befassen soll. Ziel dieser Sitzung soll laut Einladungstext sein, die 1977 „verpaßten Chancen und die heute noch vorhandenen Möglichkeiten einer politischen Lösung des Terrorismusproblems zu durchdenken und Vorschläge zu entwickeln für ein gewaltfreies und friedliches Lösungskonzept“. Knapp 100 Seiten Text zum Deutschen Herbst 1977 legte Antje Vollmer zur Vorbereitung der Schwerpunktsitzung vor, u.a. die Briefe der Braunmühl–Brüder und ein 1972 von Heinrich Böll veröffentlichter Text „Will Ulrike Gnade oder freies Geleit?“. Als Gäste wurden der frühe– re SPD–Bundestagsabgeordnete Manfred Coppik, der gegen das Kontaktsperregesetz gestimmt hatte, die aus der RAF ausgestiegene Astrid Proll, der Schriftsteller Martin Walser und der aus dem SDS kommende Verleger KD Wolff eingeladen. Vertreter der Angehörigen–Gruppen wurden nicht eingeladen, weil die Grünen zu ihnen keinen Kontakt haben. Vertreter der Anwälte einzuladen, erklärte Antje Vollmer auf Nachfrage, sei nicht nötig gewesen, da Gudrun Ensslins Verteidiger Otto Schily Fraktionsmitglied sei. Diskutiert werden soll neben Möglichkeiten und Chancen einer Amnestiekampagne eine große Anfrage, die Antje Vollmer, unterstützt u.a. von Otto Schily, konzipiert hat. Fortsetzung auf Seite 2 Gastkommentar von Dany Cohn–Bendit auf Seite 4 In dieser großen Anfrage an die Bundesregierung soll es beispielsweise darum gehen, ob der umfassende Abbau demokratischer Rechte und Freiheiten zu rechtfertigen sei oder ob die Regierung die Gefährdung durch die RAF richtig eingeschätzt hat. Ein weiteres Thema ist die Reaktion anderer Staaten auf militante politische Gruppen. Als positive Beispiele führte Antje Vollmer in einem Hintergrundgespräch die Behandlung der „Dissociati“, der Aussteiger aus den Roten Brigaden in Italien oder die Haftentlassung der „einfachen“ Tupamaro– Mitglieder in Uruguay an. Die Antworten auf die Fragen sollen klar machen, daß Deeskalationsstrategien den Deutschen Herbst in dieser Form hätten verhindern können. „Nur die Grünen“ meinte Antje Vollmer, die sich mit dem Thema RAF seit dem Hungerstreik 84/85 intensiv beschäftigt, „können, gewaltfrei wie sie sind, die verfahrene Situation entblocken“. Sie legt aber Wert darauf, daß die Initiative nicht nur moralisch, sondern auch politisch begründet ist: in einem Land könne eine gewaltfreie Bewegung nicht neben einer gewalttätigen Bewegung bestehen, weil sich gewaltfreie Bewegungen nur „in einer offenen demokratischen Gesellschaft erfolgreich entfalten können“. Deswegen hätten die Grünen als gewaltfreie Partei ein großes Interesse an der Entspannung des Konflikts, damit sie nicht zwischen gewalttätiger Bewegung und staatlicher Repression zerrieben würden. Sorge macht sich Antje Vollmer vor allem um das Klima, in dem die Fraktionssitzung stattfindet, und um die Aufnahme in den Medien. Stimmungsmache ist von der CDU zu erwarten, deren innenpolitische Sprecher Gerster gerade bezogen auf Jutta Ditfurths Vermutung, daß es sich in Stammheim nicht um Selbstmord gehandelt hat, äußerte: „(Sie) liefert den im Untergrund lebenden Terroristen Vorwände für neue, verbrecherische Mordanschläge“.