„Die Gesellschaft muß den ersten Schritt tun“

■ Dokumentation der Erklärung von Ernst Käsemann, Antje Vollmer und Martin Walser: „Vorschlag zur Eröffnung eines gesell– schaftlichen Dialoges - gerichtet an die RAF–Häfltinge, an Justizminister Engelhardt und an Generalbundesanwalt Rebmann.“

Wir gehen davon aus, daß wir verantwortlich sind auch für das, was in unserer Gesellschaft ohne unsere Mitwirkung oder sogar gegen unseren Willen gschieht. Die, die zu Beginn der 70er Jahre geglaubt haben, sie müßten ihnen bedrohlich erscheinende Entwicklungen unserer Gesellschaft mit einer Kriegserklärung beantworten, sind nicht als Gegner oder gar Feinde unserer Gesellschaft geboren worden. Bei uns und in vielen Ländern gab es am Ende der Studentenbewegungen militante Gruppen, die meinten, gegen die Verflechtung ihrer Regierungen in kriegerische und ausbeuterische Maßnahmen gegen die „Dritte Welt“ mit Guerilla–Methoden im eigenen Land antworten zu müssen. In der Bundesrepublik aber gab es dazu noch eine besondere Zuspitzung des Konflikts durch die Nachwirkungen des Nationalsozialismus. Im Jahre 1945 hat nichts vollkommen neu begonnen. Das war für viele zu wenig. Fortwirkende national–sozialistische Denkmuster und das Verbleiben von Repräsentanten des Nationalsozialismus in führenden Funktionen führte bei vielen Jüngeren dazu, unsere Gesellschaft „faschistisch“ oder „faschistoid“ zu nennen. Sie selber, die Jüngeren, sahen sich in ihrer Gegnerschaft als Fortsetzung des antifaschistischen Widerstands. Das wirkt nach bis heute und zeigt, daß wir nicht in einer Generation davonkommen. Ein wichtiges Motiv der damaligen Militanz war die Solidarisierung mit den Befreiungsbewegungen in der Dritten Welt, leicht begründbar durch die amerikanische Kriegsführung in Vietnam. Regierung, Bundestag und der größte Teil der Presse auf der Seite der kriegsführenden USA, diese Jüngeren auf der Seite des Vietkong. Eine nicht enden wollende Polarisierung seitdem. Und viele Tote - auf beiden Seiten. Während aber Ende der 70er Jahre in anderen Ländern (z.B. in Uruguay, in Italien, auch in den USA) Versuche gemacht wurden, diesen tödlichen und bedrohlichen Konflikt zwischen den militanten Bewegungen und dem Staat zu entspannen und friedlich zu beenden, blieb in der Bundesrepublik die Front zwischen der Gesellschaft und der RAF unverändert erhalten. Es gibt weiterhin Attentate der RAF - und es gibt weiterhin Hochsicherheitstrakte. Wenn beide Seiten die historischen Bedingungen bedächten, die zu dieser speziellen bundesrepublikanischen Verhärtung führten, dann müßten beide Seiten einsehen, daß Anlaß und Form der Konfrontation aus einer vergangenen Zeit stammen. Seitdem haben politische Veränderungen stattgefunden. Die Diktaturen sind auf dem Rückzug. Überall. Viele Befreiungs– und Bürgerrechtsbewegungen kämpfen heute mit gewaltfreien Methoden um Unabhängigkeit, Menschenrechte, soziale Gerechtigkeit und individuelle Freiheiten. Auch bei uns. Der Faschismusverdacht ist für die bundesrepublikanische Gesellschaft, trotz aller besorgniserregenden Einzelerscheinungen, nicht aufrechtzuerhalten. Ebensowenig der Mythos der staatsumstürzenden Totalbedrohung, als die staatlichen Stellen einmal die RAF betracheten. Andere politische Fragen, wie die weltweiten drohende Umweltkatastrophe und die Notwendigkeit der atomaren Abrüstung, erfordern andere politische Antworten. Auch von denen, die glauben, ihre Gesellschaften bekämpfen zu müssen. In dem Konflikt zwischen Befürwortern und Gegnern dieser Gesellschaft darf es nicht mehr um das Rechthaben gehen. Uns scheint, die Zeit sei reif für die friedliche Lösung. Die Gesellschaft muß den ersten Schritt tun. Sie muß zugehen auf die Ausgestiegenen, die bis jetzt bereit waren, jenden Grad der Kriminalisierung in Kauf zu nehmen. Deswegen machen wir einen Vorschlag, wie man einer Entspannung oder gar Versöhnung näher kommen sollte. Wir laden ein zu einem Dialog mit offenem Ende. Dazu schlagen wir einen Versuch vor: Beiden Seiten soll im Strafvollzug eine Lerngelegenheit geboten werden. Einmal im Vierteljahr kommen alle RAF–Gefangenen, die zu einem Gespräch bereit sind, an einem Ort zusammen. An diesem Gespräch können Bürger und Bürgerinnen von außen teilnehmen. Es kämen dafür besonders Personenen aus dem Bereich der Kultur, der Politik oder der Kirchen in Frage, etwa in der gleichen Zahl wie die Inhaftierten. Eine unabhängige Institution (z.B. eine der Kirchen) nimmt Anmeldungen zu diesen Diskussionstreffen entgegen. Dieser Diskussionsnachmittag wird jedes Mal von zwei anderen Frauen oder Männern geleitet. Ein Leiter wird von den Inhaftierten, einer von der unabhängigen Institution benannt. Diese stimmen auch - gemeinsam mit der vermittelnden Instituion - miteinander ab, wer jeweils von den sich Anmeldenden an dem Gespräch teilnehmen soll. Für das Gespräch selbst darf es keine Themen– und Denktabus geben. Die Stunde ist günstig. Die Friedensbewegungen der ganzen Welt haben Erfolg, die Abrüstung hat eine Chance wie nie zuvor. Ist es nicht fast grotesk, daß die Konfrontation bei uns sich nicht mildern will, obwohl die Umstände, die zu ihr führten, sich so sehr verändert haben? Heute, zehn Jahre nach dem prekärsten Moment in der Geschichte der Bundesrepublik, darf man, muß man wohl den Versuch machen, das verwirkte Verhältnis der unglückseligen Konforntation einmal ernsthaft ins Gespräch zu bringen und nach einer friedlichen Lösung zu suchen. Wir, die Unterzeichner dieses Briefes, wollen an diesem Versuch eines Dialoges mitarbeiten. Sollten es zu einem Dialog kommen, wie oben vorgeshclagen, haben isch bisher zur Teilnahme bereit erklärt: Fritz Rau, Konstantin Wecker, Wolf Biermann, Karl Bonhoeffer, Horst–Eberhard Richter, Hans–Magnus Enzensberger, Ulrich K. Preuß, Christa Nickels, Bischof a.D. Kurt Scharf, Inge Aicher–Scholl, Rene Böll.