Dialektischer Wille zum Neuanfang

Für schlechte Vorzeichen anläßlich der Debatte zum „Deutschen Herbst“ hatten die Grünen ausreichend gesorgt. Es war die sachliche Wahrheit, als Antje Vollmer eingangs gestand, sie habe vor einer Fraktionsdiskussion „noch nie so gezittert“; es habe „Druck von rechts und links, von oben und unten“ gegeben. Durch die Presseerklärung von Jutta Ditfurth war der Anstoß zum Gesinnungskampf über die Frage, Amnestie für alle RAF–Gefangenen oder nur für Aussteiger, gegeben. Distanzierungsfuror von seiten der „Realos“ war zu erwarten. Von den „Linienpolizisten“ und auch von der Fraktionsmitte gab es bis zur letzten Minute Druck, die Diskussion zu verschieben. So gesehen schien Christa Nickels und Antje Vollmers prätentiose Initiative äußerst gefährdet: Aufarbeitung der linken Geschichte seit Stammheim und Ausbruch aus dieser Geschichte zugleich in Gang zu setzen. Aber - als Resümee vorab: das hohe Risiko war der beste Schutz für diesen politisch fragilen Schritt. Je länger die Diskussion dauerte, desto deutlicher wurde, daß alle, insbesondere die „Strömungsfürsten“, es vermieden, das Thema der Amnestie und des „Dialogs“ an den Linienstreit zu binden. Symptomatisch der Beitrag von Thomas Ebermann: Er zitiert zwar Einwände aus dem Fundus linksradikaler Überzeugungen, warnte davor, daß die Linke in „Schönfärberei und Legalismus versinke“ und bestand vor allem in der säuberlichen Scheidung von „schroffer Kritik an den Kampfformen der RAF“ und ihrer (richtigen) politischen Analyse. Aber - und darauf kam es an - er gebrauchte die Einwände nicht, um die Initiative zu gefährden. Ähnliche Diskussionshaltungen nahmen auf der anderen Seite Mechtersheimer und Schily ein. Insofern haben die Grünen die Fähigkeit zurückgewonnen (in dieser Frage jedenfalls), eine Initiative zu tragen, ohne den anderen den begrifflichen Offenbarungseid abzuverlangen. Wichtigster Grund für diesen Erfolg: die Inszenierung einer kleinen Utopie der „Versöhnung“, des Dialogs durch die Anwesenheit von Protagonisten der „RAF–Geschichte“, die sich nicht mehr in den Kategorien von Tätern oder Opfern gegenüberstanden. Astrid Proll und Christoph Wackernagel (Urlaub aus dem Gefängnis von Bochum) waren da: die Familie von Braunmühl, Coppik, der SPD–Dissident, der RAF–Anwalt Schily. Im Hintergrund der Diskussion zeichneten sich die vagen Umrisse einer „Amnestie–Koalition“ von Intellektuellen, der Kirche, der anderen Parteien und selbst von Teilen des Staates ab. Dennoch war die Diskussion nicht gut: das Wichtigste war, daß sie überhaupt stattfand. Die praktisch–politische Dimension der geplanten Anfrage kam kaum in die Auseinandersetzung, ja über die Anfrage selbst wurde eigentlich nicht geredet. Auch über die Bündnispartner und Bündnisstrategien wurde nicht geredet. Allein Christa Nickels nahm wütend den Stuttgarter Oberbürgermeister Rommel (“seine Amnestieforderung ist hervorragend“) gegenüber Vorwürfen in Schutz, daß es sich nur um Paternalismus handle. Auch der von Martin Walser vorgetragene Vorschlag eines öffentlichen Dialogs in Stammheim provozierte keine Auseinandersetzung darüber, ob die Zeit reif sei oder nicht, ob er Überzeugungskraft für staatliche Stellen und die RAF–Gefangenen habe oder nicht. Eine erstaunliche Diskussionsenthaltung, so als ob sich die Grünen in ihren eigenen Vorschlag gar nicht weiter einmischen wollten. Mit anderen Worten: Eine politische Analyse des Zeitpunktes (auf den doch alles ankommt) fand nicht statt. Allerdings: nachdem sich das positive Echo in Tagesschau und Tagesthemen herumsprach, herrschte strömungsübergreifende Zufriedenheit darüber, wie richtig doch der richtige Zeitpunkt war. Es bestehen auch nach dieser Diskussion Zweifel, ob die Grünen mit diesem Anfangserfolg etwas anfangen können. Unüberhörbar waren viele geschwätzige Beiträge, von–Hölzchen–aufs– Stöckchen–Reden vom Celler Loch bis Wackersdorf, Argumentationen im Schatten des zeitlosen Repressionsstaates. Lippelt, Briefs, Vogt, Kelly taten sich da hervor. Die sehr präzisen und ganz und gar uneitlen Einwendung von Astrid Proll, die forderte, „daß man von den Leuten im Knast auch etwas verlangen muß“, und Christoph Wackernagel, der vorsichtig warnte, die „Sache nicht zu hoch zu hängen“, bildeten einen auffallenden Kontrast. Hier war die Sprache realer Erfahrung, mit erschreckend wenig Resonanz bei den grünen Abgeordneten. Nicht zufällig gab es die unbefangene Diskussion über das, was man machen muß, erst nachts zwischen der den ehemaligen RAFlern und der Familie von Braunmühl. Was hindert die Grünen eigentlich, unverstellt die Möglichkeiten einer solchen gesellschaftlichen und parlamentarischen Initiative im Kräftefeld der Bundesrepublik abzustecken? Eine indirekte Antwort gab die Fraktionssitzung selber: Immer wieder tauchte die Frage auf, ob es zehn Jahre nach Mogadischu eine „neue Situation“ gebe, das heißt, ob die Verhältnisse selbst für Abbau der Feindbilder, für Dialog, für eine allgemeine Zäsur gegenüber dem „Deutschen Herbst sprechen“. Die Antworten schwebten zwischen der Beschwörung der Kontinuität von Repression und dem Glauben, „hätte es die Grünen damals gegeben, wären sie (die RAF) nicht so abgedriftet“ (Trude Unruh). Symptomatisch war aber ein kleiner Zwischenfall: Otto Schily erklärte, es gebe eine neue Situation, denn immerhin habe „diese Gesellschaft die innovative Kraft gehabt, eine neue Parlamentspartei zu schaffen.“ Hier gab es Gelächter, insbesondere von Lippelt. Nimmt man dieses Gelächter ernst, so heißt das, die Grünen haben offenbar Schwierigkeiten, sich selbst als die Kraft zu sehen, die politische Konstellationen des „Deutschen Herbstes“ zu überwinden. Ein zynisches Einverständnis mit der eigenen Unwichtigkeit, das möglicherweise das Desinteresse erklärt, sich die Köpfe von möglichen Bündnispartnern zu zerbrechen. Aber: Tenor der Debatte war es nicht. Sie endete zwar nicht in einem Beschluß, jedoch in einer dominanten Tonart: Erfolgsaussichten gibt es, auch die RAF kann dialogfähig sein. Es geht nicht darum, Forderungskataloge aufzustellen, sondern um den „dialektischen Willen zum Neuanfang“. Und: Amnestie für alle RAF–Gefangenen bloß zu fordern, „heißt Amnestie für niemand“ (Vollmer). Klaus Hartung