Die Tode von Stammheim und die Annehmlichkeiten des Ungewissen

■ Auch zehn Jahre nach dem Tod von Gudrun Ensslin, Andreas Baader und Jan Carl Raspe geben viele offene Fragen Anlaß zum begründeten Zweifel an der staatlichen Selbstmordversion. Doch auch die Frage „was wäre wenn“ scheint inzwischen tabuisiert; bei der Linken wie bei der Rechten

Von Oliver Tolmein

Klarheit über die Todesfälle in Stammheim gibt es bis heute nicht. Die Fragen, die 1977 nach dem 18. Oktober offen blieben, blieben zum allergrößten Teil bis heute ungeklärt. Neue Zweifel an der staatlichen Selbstmordversion sind in den letzten Jahren hinzugekommen. Das allein wäre noch wenig erstaunlich - daß aber der Regierungsapparat ein Interesse an der Verhüllung der Ereignisse damals im 7. Stock des Isolationstraktes haben kann, ist nur allzu gut vorstellbar. Merkwürdig ist dagegen: Je schwächer die staatliche Version, je drängender die Indizien dagegen, desto geringer wird das Interesse innerhalb der Linken an der Klärung dessen, was damals wirklich geschehen ist. Und nicht nur das: Immer mehr halten auch die staatliche Version für glaubwürdig oder zumindest möglich; zuletzt Astrid Proll in ihrem Aufsatz in Tempo. „Alle Kreter lügen...“ hat Christiane Ensslin versucht, das Phänomen auf den Punkt zu bringen, daß keine Seite an der Entdeckung der Wahrheit interessiert zu sein scheint, diese deswegen wahrscheinlich auf ewig verdeckt bleiben wird. Die Linke, die je nach exaktem politischen Standpunkt, sich ohne große Recherchen auf die Mordversion gestützt oder ohne beharrliches Nachfragen auf die staatliche Selbstmordversion eingelassen hat, hat so wenig Interesse daran wie die Rechte. Zum schier unlösbaren logischen Problem wird der Satz aber erst in seiner vollständigen Fassung: „Ein Kreter sagt: alle Kreter lügen.“ Die Lügner haben den Kreis erst geschlossen, wenn man sich selber mit der Lüge begnügt, sich von den anderen Kretern vereinnahmen läßt und damit zu einem der ihren wird. 18. Oktober 1977 Als morgens um kurz vor acht der Schließer die Zellentür von Andreas Baader öffnet, haben die „klugen Köpfe“ der Republik bereits den Leitkommentar der Frankfurter Allgemeinen Zeitung lesen können: „Läßt sich nichts ändern an der deprimierenden Ungleichheit der Überlebenschancen zwischen den Bandenmitgliedern einerseits, den von ihnen Verfolgten und ihren Geiseln andererseits?“ Die Frage stellen heißt sie beantworten: „Wäre es nicht an der Zeit über ein Notrecht gegen Terroristen nachzudenken?“ Nachgedacht wird zu diesem Zeitpunkt schon länger - und es werden auch Antworten präsentiert: „Für jede Geisel sollte man zwei Terroristen erschießen“ zitiert Bild Volkes Stimme, der nordrhein–westfälische Ministerpräsident Heinz Kühn (SPD) sinniert in der Welt: „Die Terroristen müssen wissen, daß die Tötung von Hanns Martin Schleyer auf das Schicksal der inhaftierten Gewalttäter, die sie mit ihrer schändlichen Tat befreien wollen, schwer zurückwirken müßte.“ Es tritt das Gegenteil ein: Der Tod der Inhaftierten zieht Hanns Martin Schleyers Ermordung nach sich. Die Idee, die RAF–Gefangenen als Geiseln zu benutzen und gegebenenfalls von Staats wegen umzubringen, wird nicht nur ausführlich und ohne große Zurückhaltung in der Öffentlichkeit diskutiert, sie findet auch Eingang in die Diskussionen des Großen Krisenstabes. Die Ermordung der RAF– Gefangenen macht in der Logik der veröffentlichten Meinung und im Kalkül der Regierenden also offensichtlich Sinn. Um so auffälliger, daß Innenminister Maihofer (FDP), kaum daß die Leichen von Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan Carl Raspe am 18. Oktober gefunden sind, verkündet: „Man kann die Perfidie auch so weit treiben, daß man seine eigene Tötung zur Hinrichtung macht.“ Hatte kurz zuvor noch der Krisenstab die Ermordung als mögliche politische Maßnahme diskutiert, sollte es jetzt plötzlich das Interesse der politischen Gefangenen selbst sein, als ermordet zu gelten? Was hätte das Signal einer solchen Inszenierung sein sollen? Was zeigt deutlicher die Ausgeliefertheit und Hilflosigkeit des inhaftierten Revolutionärs als der von Staatsschutzschergen durchgeführte Mord? Daran wäre nichts Mobilisierendes gewesen - es hätte höchst abschreckend gewirkt - das war ja auch das Kalkül des Krisenstabes, als er Mordmodelle durchspielte. Wundersame Konstruktionen... Der Zeitgeist liebt schlichte Lügen. Die Zeitschrift Tempo serviert sie ihm in ihrem Oktoberheft in einer Bildunterschrift: „Die Besucherzelle. Eine dicke Panzerglasscheibe trennt die Gefangenen von ihren Anwälten und Angehörigen. Kein Händeschütteln, kein Kuß, keine Berührung. Trotzdem gelang es RAF–Helfern ein ganzes Waffenarsenal in die Zellen zu schmuggeln“. Tatsächlich existiert bis heute keine glaubwürdige Version, wie Andreas Baader und Jan Carl Raspe an die Pistolen, mit denen sie sich erschossen haben sollen, gekommen sind. Die regierungsamtliche Feststellung, daß sie ihnen von den Anwälten Newerla und Müller während des Prozesses zugesteckt worden sind, kann so gut wie ausgeschlossen werden. Die Durchsuchungen der Anwälte vor jedem Prozeßtermin sowie das Filzen der Gefangenen danach machte den Transport von Waffen in den Gerichtssaal und aus ihm wieder heraus in die Zellen fast unmöglich. Aber selbst wenn sich dieses kleine Wunder ereignet haben sollte: Es hätte umgehend ein größeres folgen müssen. Zu Beginn der Kontaktsperre wurden den Gefangenen ihre elektrischen Geräte abgenommen und gründlich durchsucht. Es wird aber behauptet, Baader habe seine Waffe im Plattenspieler versteckt. Wie sollte sie übersehen worden sein? Noch unglaubwürdiger ist das behauptete Versteck von Raspes Waffe: Er soll sie in Zelle 716 in einer Maueraussparung verborgen haben. Diese hätte er erst nach den Umbauarbeiten im Hochsicherheitstrakt im Mai und Juni 1977 auskratzen können. Damals lag er aber gar nicht in Zelle 716, sondern in Zelle 718. Die Zelle 716 stand leer. Sie wurde erstmals während der Kontaktsperre belegt. Doch es braucht noch mehr Wunder, um die staatliche Version glaubwürdig erscheinen zu lassen. Der Linkshänder Andreas Baader hielt, als er aufgefunden wurde, die Pistole in der rechten Hand. „Waffe, Verletzung und Schmauchspur zusammen ergeben, daß die Pistole mit dem Griffstück nach unten an den Hinterkopf gesetzt wurde“, heißt es im Bericht der vor Ort tätigen Kriminalbeamten. Die medizinischen Gutachter behaupten wenig später das genaue Gegenteil: Beidhändig mit dem Griff nach oben habe Baader die Waffe gehalten. Ein weiteres Gutachten, im Auftrag des BKA erstellt, erklärt die geringe Pulverdampfkonzentration an der Einschußstelle damit, daß Baader sich nicht mit aufgesetzter Pistole, sondern aus 30 bis 40 Zentimeter Entfernung erschoßen haben soll. Da die Pistole selbst 17 Zentimeter lang ist, hätte diese Haltung wahrhaft akrobatische Verrenkungen erforderlich gemacht. Also lieferte das BKA eine zweite Version: Baader könnte sich auch mit einer Pistole mit Schalldämpfer erschossen haben. Nur: Ein Schalldämpfer wurde nicht gefunden. ..massive Widersprüche Auch über den Verlauf des tödlichen Schusses existieren verschiedene Versionen. Die Mediziner gutachteten, das Projektil sei nach Durchschlagen des Kopfes an die Wand geprallt, von dort abgeprallt und dann zu Boden gefallen. Das erklärt die „Spur 6“: blu tige Gewebeteile an der Wand. Das kriminaltechnische Gutachten behauptet das Gegenteil: „Das abgefeuerte Geschoß drang nur noch mit schwacher Restenergie aus dem Schädel und blieb im unmittelbaren Bereich der Leiche liegen.“ Dieser Widerspruch wird sich nicht aufdecken lassen, weil die „Spur 6“ zwar zu den Akten genommen wurde, aber irgendwo angeblich verloren worden ist. Ähnlich massive Widersprüche und Unklarheiten, wenn auch nicht ganz so zahlreiche, gibt es auch bei der erhängt aufgefundenen Gudrun Ensslin, dem ebenfalls erschossenen Jan Carl Raspe und der mit schweren Stichverletzungen überlebenden Irmgard Möller. Beispielsweise ist bei keiner Leiche der Todeszeitpunkt rechtzeitig, und damit noch möglichst exakt, festgestellt worden. Der Gutachter Professor Mallach erklärt das damit, „daß wir abends erst an die Leichen herandurften“. Es wäre aber wichtig gewesen festzustellen, ob der Tod vor Bekanntwerden der Erstürmung der „Landshut“ um 0.38 Uhr eingetreten ist oder danach. Falls der Sterbezeitpunkt vor 0.38 Uhr gelegen haben sollte, fehlte nämlich jegliches Motiv für einen Selbstmord. Ähnlich merkwürdig ist, daß der gleiche Obduzent, der auch schon beim Tod von Ulrike Meinhof versäumt hatte, den routinemäßigen Histamintest (Gewebeuntersuchung, d. Red.) zu machen, dies auch bei Gudrun Ensslin „vergaß“. Nur der Histamintest kann aber klären, ob jemand, der aufgehängt gefunden wird, bereits tot in die Schlinge gehängt wird oder sich tatsächlich stranguliert hat. Wer bezahlte Werner Mauss? Jenseits der rein kriminaltechnisch begründbaren Zweifel an der staatlichen Selbstmordversion haben sich in den letzten Jahren jedoch auch neue Fragen aufgetan. So stellte sich im Zuge der Flick–Affäre heraus, daß die deutsche Industrie dem Bundesnachrichtendienst großzügige Spenden hatte zukommen lassen. Gelder, mit denen der Nachrichtendienst Spezialaufträge gegen den Terrorismus finanzierte und die der „Privatdetektiv“ Werner Mauss durchführte. Als der Bundestagsabgeordnete der Grünen, Hans–Christian Ströbele, im Bundestag wissen wollte, ob diese in Zusammenhang mit den Todesfällen von Stammheim stünden, erntete er empörte Zwischenrufe - es gab aber keine Aufklärung, wofür sonst Mauss bezahlt worden war. Fest steht jedenfalls, daß ausgerechnet in der Todesnacht die Videoüberwachung im 7. Stock trotz (oder wegen?) gerade durchgeführter Reparaturarbeiten ausgefallen war. Es gab auch einen nicht kontrollierten Seiteneingang in den 7. Stock und, auch das steht fest, auf langsame Bewegungen auf dem Gang reagierte die Alarmanlage nicht. Auch die durch etliche Indizien erstmalig von Stefan Aust belegte Vermutung, daß die Zellen im 7. Stock abgehört worden sind, läßt die offizielle Version der Dinge nicht gerade wahrscheinlicher erscheinen: zumindest die Verabredung zum Selbstmord, so es sie überhaupt gegeben hat, hätte mitgehört werden müssen. Überhaupt erstaunt, daß in der offiziellen Dokumentation der Bundesregierung über die Ereignisse im Zusammenhang mit der Schleyer–Entführung zwar mehrmals Hinweise darauf gegeben werden, daß die Gefangenen selbstmordgefährdet waren, daß es aber anscheinend nie staatliche Reaktionen oder weitergehende Vorsichtsmaßnahmen gegeben hat. Der Glaube an den Rechtsstaat Die Reaktionen auf den Tod fielen eindeutig aus: keine einzige bürgerliche Zeitung machte sich die Mühe die Widersprüche, Ungereimtheiten, offensichtlichen Lügen und offenen Fragen sorgfältig zusammenzutragen und zu bewerten, geschweige denn eigene Recherchen anzustellen. Es dauerte mehr als zwei Jahre, bis der sonst bei allen möglichen kleinen Affären und Affärchen Titelstory um Titelstory zusammentragende Spiegel einmal halbwegs vollständig die Fakten wiedergab, die gegen die staatliche Version der Dinge sprechen. Allerdings geschah das nur, um die Selbstmordthese gegen die Recherchen von Gudrun Ensslins Schwester Christiane zu verteidigen, die auch den Mord für denkbar hielt und hält. Interessant ist das nahezu einzige Argument, daß der Spiegel damals für die Selbstmordthese anführte: „Doch bei aller Nachlässigkeit und Ignoranz, die der Wahrheitsfindung im Wege standen: Es gibt keinen vernünftigen Grund für die Unterstellung, es habe sich um Mord gehandelt, weder im Detail noch im Allgemeinen. Heuchelei und Korruption und Machtgier, das und sonst noch Übles mags wohl geben in der bundesdeutschen Politik. Mord und Totschlag aber zählen nicht dazu.“ Warum nicht? „Dieser Staat ist dafür zu solide“, wird zustimmend ausgerechnet der baden– württembergische Landespolizeipräsident Stümper zitiert. Weil nicht sein kann, was nicht sein darf, verzichtet auch der allergrößte Teil der bundesdeutschen Linken stillschweigend darauf, ganz genau zu erfahren, was in der Nacht vom 17. zum 18. Oktober in Stammheim vor sich gegangen ist. Er wolle eben gerne an die Rechtsstaatlichkeit der Bundesrepublik glauben, erklärte Daniel Cohn– Bendit im Pflasterstrand vor einigen Tagen seine Motivation, den Selbstmord für wahrscheinlich zu halten. In seiner eigenen Logik tut Cohn–Bendit gut daran, den Glauben dem Wissen vorzuziehen. Denn stellte sich heraus: es war Mord - die Versöhnung mit diesem Staatsapparat wäre ohne die offensichtliche und restlose Aufgabe der einstigen politischen Identität nicht zu vollziehen. Das alles schließt nicht aus, daß es sich in Stammheim doch um Selbstmord gehandelt haben könnte. Aber die Beharrlichkeit, mit der die Phalanx aus Exekutive, Legislative, Justiz und Medien sich weigert, Fragen zu stellen oder, so sie von anderer Seite gestellt werden, sie zu beantworten, macht mißtrauisch. Ausgerechnet an dem Punkt auf die Wahrheit zu verzichten, an dem der chilenische Diktator Pinochet die Verwandtschaft seines Regimes mit dem in der BRD festgestellt hat, ist für die Linke nicht akzeptabel. Bekenntnisse, Mythen und kompromißorientierte Erklärungen können den grundsätzlichen Unterschied nicht verdecken, der zwischen einem als Selbstmord inszenierten Mord besteht und einem aus schwer faßbaren Gründen gewählten in jedem Fall aber zu respektierenden Freitod. Der Artikel basiert auf Fakten und Überlegungen zum Buch: „Nix gerafft - zehn Jahre Deutscher Herbst und der Konservativismus der Linken“ von Oliver Tolmein und Detlef zum Winkel, konkret Literatur Verlag, 166 Seiten, 18 DM