Büchners zweite Flucht

■ Eklat bei der Büchner–Preis–Verleihung an Erich Fried / Bürgermeister Metzger wittert Doppelmoral / Fried stellt sich Büchner „in unserer Zeit“ bei der Baader–Meinhof–Gruppe vor

Darmstadt (taz) Zu einem Eklat kam es am Samstag abend in Darmstadt bei der Verleihung des Georg–Büchner–Preises an den Lyriker und Shakespeare– Übersetzer Erich Fried. Die Ehrung wird von der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung vergeben, deren Präsident Heckmann den 66jährigen Fried als „mutigen Schriftsteller“ bezeichnete. Der in London lebende Dichter habe es nicht aufgegeben, „gegen die Übermacht der Mißstände auf unserer Welt zu schreiben“. In seiner Dankesrede hatte Fried erklärt, der wegen der Publikation des „Hessischen Landboten“ in Darmstadt verfolgte Büchner sei kein „Apo stel der Gewaltlosigkeit“ gewesen. Es sei wahrscheinlich, daß er „sich in unserer Zeit zur ersten Generation der Baader–Meinhof– Gruppe geschlagen hätte“. Wenn Büchner heute schreiben würde, hätte er sicherlich den „neu aufkommenden Anti–Semitismus“, die „Verstümmelungen des Asylrechts“ oder „ehrerbietiges Stillschweigen“ vor jedem Popanz aufs Korn genommen. Gegen Ende seiner Rede (Auszüge auf Seite 2) ging Erich Fried auf die Vertreibung von Sinti und Roma aus der Stadt Darmstadt ein. Als der seinerzeit dafür zuständige SPD–Oberbürgermeister Metzger nach der Preisverleihung das Bankett für 300 geladene Gäste statt mit einem Begrüßungstoast mit einer Interpretation der Fried–Rede eröffnete, kam es zu Tumulten. Fortsetzung und Dokumentation auf Seite 2 Metzger bezeichnete die Ansprache Frieds als „weniger gute Rede“ und warf ihm „Doppelmoral“ vor. Schließlich habe Fried einen von Stadt, Land und Bund gestifteten, mit 30.000 Mark dotierten Preis angenommen, und gleichzeitig greife er den Staat vehement an. Daraufhin standen zahlreiche Zuhörer und auch der Preisträger auf und verließen unter Protesten das Akademie–Gebäude. Eine Beratschlagung in einem benachbarten Lokal erwies sich als unmöglich - der Verwalter des der Stadt gehörenden Restaurants verweigerte den Unterschlupf suchenden Gästen den Zutritt. Auf Vermittlung des Akademiepräsidenten Heckmann (“Tus mir zuliebe, Erich!“) erklärte sich Fried bereit, eine Ent schuldigung des Bürgermeisters zu akzeptieren. Nachdem Metzger seine Äußerungen zurückgenommen hatte, ging der Preisträger zurück in den Saal. Nach einer halben Stunde, die in „gedrückter Stimmung“ - so ein Beobachter - am Buffet absolviert wurde, löste sich die Versammlung dann offiziell auf. Von Erich Fried war heute leider keine Erklärung zu den Vorfällen zu bekommen. Er ist von Darmstadt aus zur Verleihung ei nes Literatur–Preises nach Jugoslawien weitergereist. Vor Fried hatten den Büchner– Preis, der als wichtigste deutsche Literaturauszeichnung gilt, unter anderem Erich Kästner, Max Frisch, Heinrich Böll, Christa Wolf, Friedrich Dürrenmatt und Ernst Jandl erhalten. mbr