Die Sowjetunion im Plastikrausch

■ Obst und Gemüse wird in der UdSSR jetzt luftdicht in Plastiktüten angeboten / Die Konsumenten werden nicht nur mit vergammelten Waren beglückt, sie müssen auch noch mehr dafür zahlen / Die städischen Mülltonnen verkraften den zusätzlichen Abfall nicht

Aus Moskau Alice Meyer

Bei einem abendlichen Gang durch Moskaus staatliche Obst– und Gemüseläden (bis 20 Uhr geöffnet) fallen vor allem die neuen Verpackungen auf: Die Weintrauben aus der Moldau–Republik, die Tomaten aus Aserbaidschan, die Pflaumen aus der Ukraine sind von dicken, luftdichten Klarsichtfolien umgeben. Von zahllosen Käuferhänden prüfend betastet, durch den Transport auf schlaglochübersäten Straßen oder ausgeschlagenen Eisenbahngleisen weichgeklopft, lösen sich die Früchte aber zum Entsetzen der Käufer in ihre Hauptsubstanz - Wasser - auf. Auch die chemisch unbehandelten aromatischen Äpfel mit ihren Druck– und Wurmstellen überstehen die sauerstoffreie, feuchtwarme Umhüllung auf ihrem langen Weg in die Hauptstadt nicht lange, von den Kartoffeln aus dem Raume Woronjesh, die sich manchmal schon vor dem Abpacken der Fäulnis hingeben, ganz zu schweigen. Für Erdäpfel, die häufiger als andere Feld– und Gartenfrüchte in kläglichem Zustand in die Läden gelangen, gibt es meist noch die konventionelle Packpapiertüte. Solch ein Glück und Luftlöcher kennen Möhren nicht, nur Schweißnähte, die manchmal platzen. Vorreiter auf dem Gebiet „fortschrittlicher“ Plastikverpackungen sind die Hartwährungsläden der „Berjoska“–Kette. Die grüne Ananas aus Vietnam lagert in der abgeschnürten Klarsichttüte genauso wie die Zitronen aus Georgien. Fachgerecht kunststoffumhüllt werden Weißkohl, Blumenkohl und Bananen. Lediglich die Wassermelone aus Tadschikistan gerät leider noch zu groß und muß daher hüllenlos mit einem simplen Preisauszeichnungsschild Vorlieb nehmen. Zahlen muß der Verbraucher Der verschwenderische, unnütze und schädliche Einsatz von Plastiksäcken, -Tüten und -Folien wird dem Käufer in Rechnung gestellt. Sechs Kopeken kostet das Wohlstandsattribut. In den Devisenläden werden zur Zeit diese umgerechnet 18 Pfennige für eine 22x40 cm große Klarsichthülle verlangt, deren Einkaufspreis vielleicht ein Drittel davon be trägt. Manche Verbraucher waschen und trocknen diese Tüten, bringen sie in den glasklaren Urzustand zurück und überlassen sie für sechs Kopeken den Bäckereien und Brotläden, die dann wieder Bonbons in der besagten Verpackung feilbieten. Auf meinen Versuch hin, die Annahme der Tüte von vornherein zu verweigern, gab es unterschiedliche Reaktionen: In einem großen Obst– und Gemüseladen nahe dem Moskauer Leninprospekt lagern herrliche Dattelweintrauben, süß, mit dem ersten Frost gesegnet, abgepackt in Einkaufswagen. Die Tüten weisen Spuren der traditionellen handgreiflichen Begutachtung durch sowjetische Käufer auf und verursachen erste Schwimmversuche einiger Trauben. Ich wandere mit meiner Tüte ins überfüllte Lager. Zehn bis fünfzehn Personen halten sich dort auf. Eine Frau packt Trauben ab. Ich spreche sie an und frage: Warum werden die Trauben in „Zellofan“ (wie es auch im russischen heißt) verpackt? Durch meinen Akzent bin ich als Ausländerin erkannt. Sofort landet eine frisch abgepackte Traubenration in mei nem Korb und die alte Tüte wird samt Inhalt entnommen. In einem großen Supermarkt finde ich herrlich grüne und vermutlich saure Äpfel in Tüten. An der Kasse schütte ich die Äpfel in meinen Korb und gebe die Tüte zurück. Die junge Kassiererin faltet sie schweigend zusammen und legt sie unter die Kasse. Ein „Berjoska“–Laden bietet Obst und Gemüse in selten großen Mengen an. Ich nehme fünf bis sechs verschiedene Sorten. Die Packerin bitte ich, die Ware ohne Verpackung sofort in meinen Korb legen zu dürfen und mir einen nur mit Preis schild versehenen Blumenkohl zu überlassen. Ein solches Anliegen ist für die Frau neu, aber nach kurzer Überlegung annehmbar. Sie klebt auf eine vorhandene Packpapiertüte sämtliche Preisschilder; die Ware wird ausgepackt. Die Kassiererin weiß schon Bescheid und rechnet alles zusammen. Packmaterial wird nicht in Rechnung gestellt. Tausend kleine Feuer In Moskau quellen die Mülltonnen über, sie können die traditionellen Küchenabfälle, aber nicht den Wust an Verpackungsmüll aufnehmen. Der Ausweg aus der Misere ist miserabel. In den Wohngebieten wird illegalerweise immer mehr abgefackelt. Das trotz Gorbatschows Perestroika immer noch mächtige staatliche Planungskomitee Gosplan hat die Weichen längst gestellt: Alles Mögliche soll künftig in Kunststoffverpackungen an den Verbraucher gelangen. Die sowjetischen Planer schicken sich an, die Sünden und Fehler des Westens zu wiederholen, und das Beklemmende dabei ist: sie wiederholen sie in größerem Maßstab und mit bürokratischer Gründlichkeit.