Pariser Effekte: Börsenbaisse bremst Balladur

■ Frankreichs Privatisierungsprogramm verzögert sich / Internationale Kursstürze lassen die neuen Kleinaktionäre zittern / Dubiose Vergabe des Stammkapitals

Von Alexander Smoltczyk

Paris (taz) -Herbst in Paris. Die Kurse fallen. Noch bis vor wenigen Tagen hatten die Dämme des Kapitalmarktes die enorme Privatisierungswelle in Frankreich bändigen können: Trotz bislang 92 Mrd. Franc an neuangebotenen Titeln stiegen die Börsenkurse höher und höher. Wie bislang nur dem Wetterbericht lauschten Millionen von Kleinaktionären jetzt den Börsenmeldungen, die vom Wertzuwachs ihres neuwerworbenen Vermögens kündeten. Aus und vorbei. Unter den ersten Herbststürmen der Aktienmärkte jenseits des Ozeans sackten auch die Pariser Kurse zusammen. Die seit zwei Jahren betriebene Dereglementierung der Pariser Börse sorgte dafür, daß sich die Panik von der Wall Street in EDV– Schnelle nach Paris übertrug. Der Alptraum von Finanzminister Eduard Balladur schien sich zu erfüllen: Zu Tausenden verkauften die in Panik geratenen Börsennovizen ihre Saint Gobain– und Paribas–Aktien, sodaß deren Werte noch weiter nachgaben (Paribas liegt jetzt um zehn Prozent unter dem Kaufpreis zu Jahresanfang). Um weiteren Panikverkäufen vorzubeugen, trat Parlamentspräsident Chaban–Delmas vor die Radiomikrophone und sprach seinen Mitbürgern Mut und Zuversicht zu: stoisches Durchleiden von Verlusten als erste Bürgerpflicht? Doch da, wie schon Altmeister und Kriesenökonom Keynes wußte, an der Börse das gilt, „was die Durchschnittsmeinung als den Inhalt der Durchschnittsmeinung vermutet“, bleibt noch abzuwarten, ob sich der Citoyen gegen den homo speculans durchsetzen wird. Nichts als Ärger mit dem Volk also, das nach dem Willen der Gaullisten zum Volkskapitalismus berufen war. Und was gab es nicht alles zu kaufen aus dem großen Besitz des Staates: sechs Großbanken, zwei Industriekonzerne, der Medien– und Servicemulti Havas, dazu ein Fernsehsender und Teile von Air France und Elf–Aquitaine. Nur der Verkauf des krisensicheren, weil von Krisen abhängigen Rüstungskonzerns Matra, der für Ende des Monats geplant war, muß nach der Rekordbaisse verschoben werden. Bereits de Gaulle hatte gehofft, daß Frankreichs Bürger, einmal zu Rentiers geworden, den ökonomischen Realitätssinn entwickeln würden, der für die Entwicklung der Nation vonnöten ist. Das Vermächtnis des Generals schien sich zu erfüllen, als knapp drei Millionen Franzosen die Anteile der ehemaligen Staatsbetriebe erwarben und einen ersten scheuen Blick in die schillernde Welt der Hochfinanzen werfen wollten. Ein gelungener Coup also? Weit gefehlt! Balladur plagten Zweifel an der Verläßlichkeit des Volks– Aktionariats. Wie kann ein Konzern von der Größe der CGE etwa (der französischen Siemens mit einem Reingewinn 1986 von 1,2 Mrd. Franc) eine langfristige Unternehmensstrategie durchhalten, wenn sein Kapital in den Händen von 2,3 Millionen unsteter Kleinstaktionäre liegt? Zwar waren PR–Agenturen beauftragt, die neuen Aktionäre von ihrer Bindung an die Firma zu überzeugen, doch, damit nicht genug, verfiel Balladur auf die Idee der „harten Kerne“, die seit dem Sommer für Schlagzeilen sorgt. Um die Kapitalseite zu stabilisieren, vergab der Finanzminister höchstpersönlich einen Teil der begehrten Aktien, meist rund ein Fünftel, an einen Stammaktionärskern von bewährten Finan ziers. Diese verpflichteten sich, ihren Anteil in den nächsten zwei Jahren nicht zu verkaufen. Keine schlechte Idee an sich, wenn nur die Kriterien, nach denen diese Kerne ausgewählt wurden, den Maximen der Egalite und Liberte gehorcht hätten. Doch plötzlich saßen etwa im Aufsichtsrat von Havas fast ausschließlich bekannte Anhänger von Chiracs Partei RPR. Selbst der Vertraute von Raymond Barre, Charles Millon, warnte vor einer „politisch–finanziellen Oligarchie“, die dort im Arbeitszimmer Balladurs eingesetzt werde. Und für das links–liberale Blatt Evenement handelt es sich bei der Vergabe der Kernanteile schlicht um „den größten Skandal der letzten Jahre“. Die Empfindlichkeit, mit der die Öffentlichkeit auf den Vorwurf der Ämterpatronage reagierte, erklärt sich durch die strategische Bedeutung, die die privatisierten Firmen für die zukünftige industrielle Landschaft jenseits des Rheins haben. Die Bank Paribas etwa hält in ihren Tresoren Beteiligungen an mehreren hundert Unternehmen; gleiches gilt für die CGE und die drei laut Plan im November zum Verkauf anstehenden Versicherungen, den größten Aktienbesitzern des Landes. Angesichts der meist schweigenden Masse von Kleinaktionären, denen bisher nur von Saint Gobain und Paribas ein Sitz im Aufsichtsrat eingeräumt wurde, kann selbst durch eine geringe Beteiligung von ca. fünf Prozent des Kapitals eine erhebliche Einflußmöglichkeit erreicht werden. Da der überwiegende Teil des „harten Kerns“ aus eben den bereits privatisierten, oder zu Privatisierung anstehenden Unternehmen besteht, läßt sich durch indirekte Beteiligungen die Macht vervielfältigen: So besitzt Paribas zwar nur vier Prozent von Havas, kann jedoch seinen Einfluß über die Societe Generale, dem anderen Großaktionär bei Havas, bei dem Paribas Anteile besitzt, geltend machen. Was Wunder, daß auch Daimler–Benz, stets auf der Suche nach High–Tech–Brückenköpfen, sein Interesse am Stammkapital von Matra angemeldet hatte. Nach dem Kauf von Dornier und MBB hätten die Schwaben damit eine Tür zum französischen Waffenexportmarkt geöffnet. Die wechselseitigen Verflechtungen der privatisierten Unternehmen lassen ein engmaschiges Netz erkennen, dessen mächtigster Pol von der CGE und der Societe Generale gebildet wird. Beide Unternehmen halten gegenseitige Anteile und verfügen über eine gemeinsame Bilanzsumme von 43 Mrd. Franc. Die CGE, Frankreichs Force de Frappe auf dem heißumkämpften internationalen Kommunikationsmarkt, hat sich derart eine gutgefüllte Kriegskasse für den Wettstreit mit Siemens aufgeschlossen. Falls nun ein Exodus der kleinen Aktionäre aus der Börse einsetzen sollte, was noch keineswegs sicher ist, würden zwar begehrte Titel zum Kauf freiwerden, doch wäre auch der Kapitalmarkt um einige Milliarden enger. Dann wäre das Ende der Hausse auch das Aus für Balladurs Privatisierungskampagne. Doch angesichts der Bedeutung der Matra– und Versicherungsprivatisierung ist Balladur bereit, Opfer zu bringen: Der französische Staat wird sich um ca. 20 Mrd. Franc weniger verschulden.