Aus den Fugen geraten

Die französische Regierung wurde sichtlich überrascht von den gewalttätigen Auseinandersetzungen in dem 20.000 km vom „Mutterland“ entfernten Überseeterritorium, in dem Frankreich seine Atomwaffen erprobt. Noch am Freitag hatte das Militär eine atomare Sprengladung auf dem 1.000 km südöstlich von Tahiti gelegenen Moruroa–Atoll getestet, am Samstag wurde dann der Ausnahmezustand in Tahiti verhängt. Umso besorgter verfolgen die Militärs heute die Situation auf der größten Insel der polynesischen Gruppe, auf der sich das soziale Klima in den letzten Monaten drastisch verschlechterte. Francis Sanford, bis vor wenigen Jahren Abgeordneter Polynesiens in der französischen Nationalversammlung, schätzte die Zukunftsaussichten der Kolonie bereits im Frühsommer pessimistisch ein: „Die meisten Menschen hier leben über ihre Verhältnisse, und eines Tages wird das alles zusammenbrechen. Wir sind schrecklich Überschuldet. Wir haben geglaubt, daß das Versuchszentrum (für Kernwaffen, die Red.) im Pazifik uns Reichtum bringen würde. Das war ein Irrtum. Es hat uns zwar Geld gebracht, aber es hat auch unsere Lebensverhältnisse aus allen Fugen geraten lassen.“ Leere Schaufenster im Pazifik Als Schaufenster Frankreichs im Pazifik rühmt Paris seine fernen Südseeinseln, haben doch statistisch gesehen die Bewohner Französisch–Polynesiens mit einem jährlichen Pro–Kopf–Einkommen von 16.500 DM den höchsten Lebensstandard unter der Bevölkerung der pazifischen Inselstaaten. Doch die offiziellen Zahlen trügen. Mehr als drei Viertel der Ureinwohner, der Maohi, die knapp 70 Kolonie stellen, sind arbeitslos. Viele von denen, die sich heute bei deutlich höheren Preisen als in Europa von wenigen hundert Mark monatlich ernähren müssen und in Blechhütten am Rande der Hauptstadt leben, kamen in den sechziger Jahren von entfernter gelegenen Atollen nach Tahiti, um beim Bau von Versorgungseinrichtungen für das neueingerichtete Kernwaffenversuchszentrum Geld zu verdienen. Trotz geringerer Löhne und hoher Arbeitslosigkeit läuft der Konsum auf Hochtouren. In den meisten Hütten sind Farbfernseher und Videoanlagen vorhanden. Gekauft wird auf Kredit, doch die wenigsten Maohi können die Raten regelmäßig aufbringen. So geben sich die Gerichtsvollzieher in den Hütten die Klinke in die Hand. Von diesen Geschäften profitieren nur Händler und Importeure, die zumeist Chinesen sind. Die Einwanderer aus dem Fernen Osten stellen zwar nur 4 weitgehend das Wirtschaftsleben. Dazu kommen die durch hohe Löhne angelockten französischen Spezialisten. Ein Elektrotechniker verdient beispielsweise 10.000 DM monatlich. Gemeinsam mit den sogenannten „Demi“, den Abkömmlingen aus Ehen zwischen Polynesiern und Europäern, sind sie im Dienstleistungsbereich und im künstlich aufgeblähten Verwaltungsapparat allgegenwärtig. Klassenbewußtsein anstelle kultureller Identität Ohne die großzügige finanzielle Unterstützung Frankreichs könnte dieser hohe Lebensstandard nicht aufrechterhalten werden. 1985 transferierte Frankreich 1,53 Milliarden DM in die Kolonie, von denen 61 wurden. Doch seit 1986 schrumpfen die Zuwendungen für das Atomtestzentrum, da die französische Regierung zum Sparen entschlossen ist. Die Zahl der Militärexperten in Polynesien wird verringert, ihre Aufenthaltsdauer verkürzt und polynesisches Hilfspersonal entlassen. Neben dem schrittweisen Rückzug Frankreichs deuten auch eine Reihe anderer Faktoren darauf hin, daß Polynesiens Wirtschaft vor dem Zusammenbruch steht. So hat der Dollarverfall die Tourismuseinnahmen sinken lassen, die Kopra– und Perlenexporte nehmen ab, die Vanille– und Kaffee–Ausfuhr stagniert, ausländische Investoren ziehen ihr Kapital ab und die Zahlungsbilanz verschlechtert sich immer mehr. Besonders schwer trifft die Wirtschaftskrise die Maohi, die aufgrund ihrer ethnischen Abstammung und ihrer schlechten Schulbildung oft nur Hilfsarbeitertätigkeiten ausüben. Die Ureinwohner, die häufig kaum Französisch sprechen, sind die ersten, die heute entlassen werden. Eine Rückkehr zu den traditionellen Lebensverhältnissen ist nur für wenige möglich, da die meisten ihr Land bei ihrem Weggang nach Papeete an Grundstücksspekulanten verkauften. Die Großfamilie, die in der traditionellen Gesellschaft den Diskriminierten Rückhalt bot, ist heute oft in alle Winde zerstreut. Auch die gemeinsame Sprache und Kultur kann kaum verhindern, daß die Ureinwohner Polynesiens ihre kulturelle Identität verlieren. Immer mehr Maohi entwickeln ein Klassenbewußtsein - eine der Ursachen für die Verschärfung der sozialen Auseinandersetzungen. Mit ihrem vierten Ausstand innerhalb eines Jahres wollen die Hafenarbeiter nicht nur Lohnerhöhungen erstreiken, sondern sie fordern auch die Neueinstellung von polynesischen Arbeitern auf Moruroa. Die Hafenarbeiter zählen zu den wenigen Berufsständen, in denen es auch Maohi gelang, Fuß zu fassen. Ihr Streik ist ein Zeichen dafür, daß die interethnischen Spannungen in der Kolonie zunehmen werden. Darauf deutet auch die wachsende Fremdenfeindlichkeit unter den Ureinwohnern hin, die fürchten, daß die wenigen Arbeitsplätze von gutbezahlten europäischen „Gastarbeitern“ eingenommen werden, für die die fernen Südseeinseln trotz aller Probleme nichts von ihrer Anziehungskraft eingebüßt zu haben scheinen. Ethnischer Konflikt verschärft sich „Es gibt Nervosität, Haß. Die Leute werden unangenehm, was ich in 40 Jahren niemals gespürt habe“, meint ein seit mehreren Jahrzehnten auf Tahiti lebender Europäer. Zwar ist immer öfters von der Unabhängigkeit Polynesiens die Rede, doch bei den Wahlen im März 1986 stimmten nur 15–20 Parteien. So ist die Lage Polynesiens kaum vergleichbar mit dem Unabhängigkeitskampf der kanakischen Ureinwohner in Frankreichs Pazifikkolonie Neukaledonien, in der mehr als 80 Staat eintreten. Die Auseinandersetzungen vom Wochenende haben jedoch gezeigt, daß die Diskriminierung der Maohi im Wirtschaftsleben nicht ohne Folgen für die politische Entwicklung in der Kolonie bleiben dürfte. Frankreichs Militärs werden dies mit besonderem Unbehagen verfolgen, da sie Moruroa bis Mitte der neunziger Jahre für die Modernisierung der Atomstreitmacht benötigen. Ulrich Delius