Sizilien: Mord aus „ehrenwerten“ Motiven

■ In Sizilien wird „gekränkte Familienehre“ höchstrichterlich als Mordmotiv anerkannt / Bewährung für einen Mörder

Aus Palermo Werner Raith

Nur sechs Jahre Gefängnis, verbunden mit sofortiger Entlassung auf Bewährung, hat am Wochenende das Schwurgericht Trapani gegen einen heute 20jährigen Mann aus Mazara del Valo verhängt. Er hatte vor eineinhalb Jahren seine 14jährige Schwester so lange mißhandelt, bis sie starb - weil sie seiner Meinung nach „in schlimmer Gesellschaft verkehrte und einen bösen Lebenswandel zu führen drohte“. Unmittelbarer Tatanlaß war, daß das Mädchen eines Abends später als vom Bruder befohlen nach Hause gekommen war. Das Urteil ist nach einhelliger Meinung aller Richter– und Staatsanwaltsorganisationen und sogar zahlreicher Rechtsanwälte keineswegs nur ein Ausrutscher - es fügt sich ein in eine zumindest in diesem Teil Siziliens seit Jahren beobachtbare Rückkehr mancher Gerichte zu „traditionellen“ Werten. In Trapani, der für Mazara gerichtlich zuständigen Provinzhauptstadt, kommen die Behörden seit dem Abzug des - bei einem Attentat beinahe getöteten - Untersuchungsrichters Carlo Palermo gerade in den „delitti donore“ keinen Schritt mehr vorwärts (Blutrache, Prügel für Ehefrauen, mafiose Verbrechen) - die „Verschwiegenheitspflicht“ gilt wieder ehern wie bis vor zwanzig Jahren, als der übliche Strafnachlaß für Verbrechen aus „gekränkter Ehre“ verboten wurde. Die vertikale Gliederung - oben die „Ehrenwerten“, unten das „Fußvolk“, oben der Mann, unten die Frau, ganz unten die Mädchen - sehen einer Espresso–Umfrage die meisten Menschen dort wieder als naturgegeben an, sei es nun aus Angst vor Repressalien oder aus einem echten Überzeugungswandel. Der Tatort Mazara del Vallo hat sich durch großzügigen Strafverzicht bei kriminellen Delikten in den letzten Monaten besonders hervorgetan. Da scheint es nicht verwunderlich, daß auch das „Verbrechen aus gekränkter Ehre“ wieder als legitim betrachtet wird. So hat das Gericht von Trapani nun das Opfer zur Schuldigen erklärt (“das Mädchen hat sich provokativ verhalten“) und dem damals 18jährigen Mann ausdrücklich „ehrenwerte Motive“ unterstellt, ja ihm als de facto–Familienoberhaupt (der Vater gelähmt, die Mutter tot) eine Richter– und Henkerrolle zugestanden.