Noch keine Aktien in der UdSSR

■ Die Mutter der sowjetischen Wirtschaftsreform, die Soziologin Tetlana Saslawskaja und der Ökonom Abel Aganbegjan schätzen auf einer Pressekonferenz den Stand der Perestroika ein

Aus Moskau Alice Meyer

Auch wenn die Reform in der Sowjetunion von oben ausgegangen sei, so habe sie doch zur Aktivierung und „Politisierung“ der Bevölkerung beigetragen, erklärte das Mitglied der Akademie der Wissenschaften, Tatjana Saslawskaja, gestern in Moskau. Die führende Vertreterin der Nowosibirsker Wissenschaftler, die schon in den siebziger Jahren weitreichende Vorschläge zur Wirt schaftsreform gemacht hatten, sprach sich dafür aus, die Erfahrungen aus Ungarn für die Weiterführung der Reform in der Sowjetunion nutzbar zu machen. Akademiemitglied Aganbegjan schloss für die Zeit bis 1989 jedoch größere Preisanhebungen für Grundnahrungsmittel, Mieten und Verkehrsmittel, wie sie sowohl in der Wirtschaftsreform Ungarns als auch in der Sowjetunion vorgesehen sind, bis zum Jahr 1989 aus. Die Perestroika habe auch schon Erfolge vorzuweisen, erklärten die Wissenschaftler. In der Landwirtschaft z.B. sei die Produktion 1985/86 um 10 Prozent gestiegen, und auch die Getreideernte 1987 werde trotz des regnerischen Wetters an das Ergebnis des Vorjahres heranreichen. Daß der wirtschaftliche Umbau in den letzten Wochen und Monaten durch Streiks in den Betrieben begleitet war, mochten die beiden Wissenschaftler nicht bestreiten, führten diese Unzufriedenheit aber nicht auf die Gegnerschaft der Arbeiter zur Perestroika zurück, sondern auf die gestiegenen Qualitätsanforderungen und staatlichen Kontrollen in den Betrieben. Aus den Schwächen des bisherigen Lohnssystems leitete Frau Slawskaja ab, daß sich die Löhne an der Arbeit und der Leitung orientieren müßten. Dies würde auch für die höheren Posten gelten, eine Obergrenze für Gehälter sollte es nicht mehr geben. An eine Einführung des Kapitalmarktes sei in der Sowjetunion jedoch noch nicht gedacht. Aganbegjan zeigte sich zwar nicht abgeneigt, trotz des aktuellen Börsenkrachs im Westen Aktien und Börsen in der UdSSR einzuführen, der nächste Schritt aber sei, die zentralisierte Zuteilung von Investitionsmitteln durch das Staatskomitee für materiell technische Versorgung (Gossnab) weitgehend durch einen Großhandel mit Kapitalgütern zu ersetzen.