Strahlenunfall deckt weitere Skandale auf

■ Noch ist in Brasilien nicht klar, wo der radioaktive Müll von Goiania letztlich lagern soll / Die Behörden müssen sich nachsagen lassen, keinen Wert auf die Kontrolle radioaktiven Materials zu legen / CNEN ist gleichzeitig Aufsichtsorgan und Atomanlagenbetreiber

Aus Brasilia Cleyde Souza

Nach dem Tod der ersten drei Opfer ist der Strahlenunfall von Goiania noch stärker in das Bewußtsein der brasilianischen Öffentlichkeit gerückt. Im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses steht nach wie vor das Krisenmanagement und der Entsorgungsnotstand. Seit vergangener Woche werden in Goiania bei den Aufräumungsarbeiten auch Roboter eingesetzt, um das Hilfspersonal vor Verstrahlung zu schützen. Doch einen Endlagerplatz für die verseuchte Erde von Goiania, für die Trümmer der abgerissenen Häuser und den übrigen verstrahlten Müll ist noch immer nicht gefunden. Gegen eine erste provisorische Lösung hat sich allerdings der heftige Protest der betroffenen Bevölkerung gewandt. Das Provisorium liegt ganze 20 Kilometer vor der Toren der Stadt. Hier, auf einem Gelände in Abadia de Gioas, sollen die Behälter mit den strahlenden Abfällen abgestellt werden, bewacht von 300 Militärpolizisten. Die unterschiedlichsten Organisationen und Parteien haben inzwischen zu Aktionen gegen diese Zwischenlagerung aufgerufen. Vergangene Woche blockierten mehr als 1.000 Demonstranten die Zufahrtstraße BR–060, um den Transport der ersten 80 Stahlbehälter zu verhindern. Nach der Blockade wurde das Zwischenlager–Gelände besetzt, die Entsorgungsarbeiten in Goiania mußten teilweise eingestellt werden. Trotz dieser Proteste rückten die Behörden nicht von ihren Plänen ab. Inzwischen sind mit Unterstützung der Militärpolizei die ersten Container abgelagert worden, darunter auch der Überrest der tödlichen Cäsium–Kapsel. Die Anwohner des Geländes wollen jetzt auf gerichtlichem Weg ein Verbot durchsetzen. Nach Schätzungen der Atomenergie–Kom mission CNEN sind 2.000 Stahlbehälter nötig, um die verstrahlten Abfälle aufzunehmen. Die Anwohner befürchten in– dessen, daß die angekündigte provisorische Lagerung des Atommülls in Goiania zu einer endgültigen werden wird. „Sao Paulo und Rio sind schon seit 25 Jahren provisorische Atommüll–Deponien“, kommentierte Stadtrat Nonato Motta. In der Tat liegen seit mindestens 15 Jahren in einem Depot nahe der Universität von Sao Paulo radioaktive Abfälle aus Krankenhäusern, Forschungszentren und Industrie. „Das wollen wir für Gioania nicht. Die Behörden müssen endlich einen sicheren Ort für radioaktiven Müll finden“, fordert Nonato Motta. Doch der verstrahlte Müll wird voraussichtlich für unbestimmte Zeit auf dem 300.000 Quadratmeter großen Gelände liegen bleiben. Angesichts der Kapazität dieser Atommüll–Deponie von 18.000 Fässern zu je 200 Litern - also weit mehr als für die Lagerung des Mülls aus Goiania benötigt würde - fällt es in der Tat schwer zu glauben, daß die Deponie nur vorübergehend genutzt werden soll. Für Stadtrat Nonato Motta stellt der Atomunfall von Goiania eine beispiellose Lektion von globalem Ausmaß dar, denn „kein Land, weder Brasilien noch irgendein anderes“, könne das Problem der Lagerung radioaktiven Atommülls lösen. „Im Grunde genommen haben die Wissenschaftler und Betreiber der Atomenergie nur an die Macht des Atoms gedacht. Die Menschen wurden in ihrem Entdeckungseifer nicht mitberücksichtigt“, stellt Nonato Motta resigniert fest. Der Strahlenunfall führte inzwischen zur Ermittlung zahlreicher skandalöser Lagerungen von radioaktiven Materialien. Aus dem petrochemischen Zentrum von Salvador - dem größten Industriekomplex dieser Art in Brasi lien - sind in den letzten Wochen Meldungen über mehrere solcher Fälle eingegangen. In dem Depot eines Etenol–Herstellers beispielsweise wurde ein mit dem radioaktiven Stoff Iridium 192 betriebenes „herrenloses“ Gerät aufgefunden. Das schon seit fünf Jahren unrechtmäßige Lagern des radioaktiven Materials wurde von Firmenmitarbeitern angezeigt. Das Gerät wurde zum letzten mal 1982 benutzt, um Verstopfungen in den Fabrikanlagen aufzuspüren. Seitdem wurde die Ausrüstung zusammen mit anderen Baumaterialien im Lager ohne jegliche Vorkehrungsmaßnahmen abgestellt. Nach Meinung von Joao Sampaio, Geschäftsführer in der Kontrollabteilung des Zentrums für Umweltressourcen in Salvador, ist die mangelnde Aufsicht „zumindest besorgniserregend“. Das offizielle Zentrum für Umweltressourcen hat weder genügend Fachleute zur Kontrolle, noch verfügt es über eine Liste aller radioaktiven Quellen, da allein CNEN für die Überwachung zuständig ist. Das Verantwortungsbewußtsein der Regierungsbehörde CNEN ist heftig ins Kreuzfeuer der Kritik geraten. Bisher wurde der CNEN wegen seiner Beteiligung an dem geheimen militärischen „Parallelprogramm“ bekannt, das für ehrgeizige Vorhaben wie den Bau eines U–Bootes mit atomenergiebetriebenem Motor verantwortlich ist. Gerade wegen seiner Doppelrolle als Aufsichtsbehörde und Betreiber von Atomanlagen wird CNEN scharf kritisiert. CNEN sieht sich dagegen als Opfer einer Hetzkampagne, so ihr Teamleiter in Goiania, Carlos Almeida: „Es ist falsch zu glauben, daß wir in Brasilien wie in einer Bananenrepublik keine Kontrollen haben.“ Doch die Meldungen über neue, haarsträubende Fahrlässigkeiten widerlegen ihm täglich aufs Neue. Währenddessen übte der Gouverneur von Goias, Henrique Santillo, harte Kritik an der seiner Meinung nach sensationellen Darstellung der Strahlenkatastrophe durch die Medien. Goias ist im wesentlichen auf den Export von Agrarprodukten und Textilien angewiesen, die auch nach Europa verschifft werden.