Die verdrängte Wirklichkeit der Türkei

■ Ein Verein für Menschenrechte sammelt Unterschriften für eine Generalamnestie von politischen Gefangenen, die sieben Jahre nach dem Putsch allmählich in Vergessenheit geraten / Aus Istanbul Ömer Erzeren

Der Stand der demokratischen Kultur eines Landes zeigt sich zuallererst immer im Umgang mit ihren Gefangenen. Gemessen an dieser Maxime kann von Demokratisierung beim südöstlichen NATO– Partner keine Rede sein. Tausende von politischen Gefangenen sitzen nach wie vor unter traurigsten Bedingungen in den Knästen, Freunde, die sich außerhalb der Gefängnisse für sie einsetzen, werden ihrerseits verfolgt. Trotzdem läßt sich der Verein für Menschenrechte nicht zum Schweigen bringen.

„Nach dem Gesetz ist Foltern eine Straftat. Doch in den Gefängnissen stellt es keine Straftat dar, einen Menschen niederzuknüppeln, nackt im Schnee erfrieren zu lassen, einen Todkranken nicht auf die Krankenstation zu verlegen, Elekroschocks zu geben, Knüpppel in Sexualorgane zu stecken, zu vergewaltigen und Fäkalien aufessen zu lassen. Wir, die Familienangehörigen der politischen Gefangenen, werden fortfahren, den Kampf unserer Kinder um ein menschenwürdiges Dasein zu unterstützen. Sie werden uns nicht einschüchtern können.“ Die Frau, die in so selbstbewußtem Ton auf einer Pressekonferenz am 13. August sprach, ist tot. Didar Sensoy, Gründungsmitglied des Vereins für Menschenrechte, starb sechs Wochen später in Ankara, wohin sie gefahren war, um der Nationalversammlung eine Petition zu überreichen. Polizisten knüppelten sie nieder und traktierten sie mit Fußtritten. Die 53jährige erlitt einen tödlichen Herzinfarkt. Unterschrift mit erheblichem Risiko Doch sie sollte Recht behalten. Die Familienangehörigen der politischen Gefangenen sind nicht zum Schweigen zu bringen. Gegenwärtig sammelt der „Verein für Menschenrechte“ allerorts Unterschriften für eine Generalamnestie und gegen die Todesstrafe. Über 100.000 Unterschriften sollen bis zum 10.12. gesammelt werden, über 50.000 Menschen haben bereits unterschrie ben, trotz eines erheblichen Risikos. Denn selbst im Vorfeld der Wahlen, Ende November, wo Ministerpräsident Özal bestrebt ist, sich in liberalerem Gewand zu präsentieren, erfolgen Polizeiübergriffe auf Mitglieder des Vereins, die Unterschriften sammeln. Als Familienangehörige auf öffentlichen Plätzen versuchten, um Unterschriften zu werben, wurden sie von der Polizei festgenommen. „Die Polizei nahm uns auf die Wache mit der Begründung, wir würden illegale Flugblätter verteilen. Unsere Unterschriftenlisten haben sie beschlagnahmt. Auf der Wache durften wir nicht zur Toilette. So versuchten sie, unsere Ehre zu brechen“, berichtet Melahat Sarptunali vom Istanbuler Vorstand des Vereins. Der Staatsanwalt hat mittlerweile Anklage gegen die Fünfzigjährige erhoben. Illegale Subversion: Zwei alte Frauen werben auf einem öffentlichen Platz um eine Unterschrift gegen die Todesstrafe. Polizei und Justiz wollen mit Angst und Schrecken der Kampagne den Garaus machen. Angesichts dieser Umstände kann die Zahl jener Unerschrockenen, die unterschrieben haben, als Erfolg gewertet werden. Über 146 Todesurteile liegen dem türkischen Parlament zur Bestätigung vor. Tausende von politischen Gefangenen sitzen in den Gefängnissen ein, und immer noch - sieben Jahre nach dem Putsch - zeigt sich die politische Justiz in ganzer Häßlichkeit. Ein Beispiel: „Der Kapitalismus steckt in einer Sackgasse“, hatte der Rechtsanwalt Ali Kalan auf einer Podiumsdiskussion zum Thema „innerparteiliche Demokratie in einer Sozialistischen Partei“ geäußert. Dieser so unbedacht und leichtfertig dahingesagte Satz soll ihn nun, wenn es nach dem Staatsanwalt beim Staatssicherheitsgericht Ankara geht, für zwölf Jahre hinter Gitter bringen. Der aus dem faschistischen Strafgesetzbuch Mussolinis in die Türkei importierte Artikel 142, einer der beliebtesten Paragrafen der türkischen Nachputsch–Ära, um unliebsame Intellektuelle mundtot zu machen, ist zur Anklage herangezogen wor den. „Wer in der Absicht, die Diktatur einer Gesellschaftsklasse über andere Gesellschaftsklassen zu errichten oder eine Gesellschaftsklasse abzuschaffen oder irgendeine der wirtschaftlichen und sozialen Grundordnungen unseres Landes umzustürzen oder die politische und rechtliche Ordnung des Landes völlig zu beseitigen, Propaganda treibt, wird mit Zuchthaus bis zu zehn Jahren bestraft“, heißt es im Gesetz. Anklage sozialistischer Parteigründer Die Strafe wird um die Hälfte erhöht, wenn die Tat öffentlich begangen wurde. Zwar gesteht der Staatsanwalt ein, daß während der Podiumsdiskussion niemand gesagt habe, die Diktatur einer Klasse solle errichtet werden, aber dies sei „die logische Konsequenz der Gesamtgesinnung der Angeklagten“. So formuliert der Staatsanwalt Wenn–Dann–Sätze. Wenn der Angeklagte meint, der Kapitalismus stecke in einer Sackgasse, dann ist aufgrund seiner politischen Gesinnung anzunehmen, daß er den revolutionären Umsturz propagandistisch vorbereitet. Der Prozeß gegen Kalan und drei weitere Redner der Podiumsdiskussion ist einer der bekannteren politischen Prozesse in der Türkei. Die Angeklagten Sungur Savran, Halil Berktay, Cenan Bicakci sind prominente Wortführer der Linken: Savran, ehemals Dozent an der Universität Istanbul, ist heute Redaktionsmitglied der angesehenen linken Theoriezeitschrift Die 11. These, der Historiker Berktay ist Redaktionsmitglied der Zeitschrift Sacak. 661 Jahre Zuchthausstrafe Neben solchen bekannteren Prozessen, die auch die türkische Presse aufgreift, werden jedoch zahlreiche Verleger und presserechtlich Verantwortliche kleinere linker Zeitschriften von einer Anklagewelle überrollt. Die presserechtlich Verantwortlichen der vor dem Putsch legal erscheinenden linken Zeitschriften sind zum größten Teil abgeurteilt. Mit siebeneinhalb Jahren Zuchthaus pro Artikel brachte es Mustafa Yildirimtürk auf 155 Jahre Zuchthaus, und der presserechtlich Verantwortliche der Zeitschrift Halkin Kurtuluschu, Veli Yilmaz, hält mit 661 Jahren Zuchthausstrafe, die er gegenwärtig absitzt, den Rekord. Am aktivsten ist die staatliche Gewaltmaschinerie jedoch, wenn es um kurdische Oppositionelle geht. Der Bürgermeister von Diyarbakir, Mehdi Zana, ist seit September 1980 im Zuchthaus, verurteilt zu fünfzehn Jahren wegen Mitgliedschaft in der kurdischen Organisation „Özgürlük Yolu“. „Es ist offenkundig, daß Özgürlük Yolu eine unbewaffnete Organisation war, die ihr Ziel, einen unabhängigen kurdischen Staat zu errichten, durch Seminare, Flugblätter und Veranstaltungen durchzusetzen versuchte“, so selbst der Militärstaatsanwalt beim Kassationshof zur Verurteilung von Zana. Und wenn der Wissenschaftler Ismail Besikci, der 1982 wegen prokurdischer Veröffentlichungen zum dritten Mal zu hohen Haftstrafen verurteilt worden war, auch vor kurzem aus dem Knast entlassen wurde, so sitzt der Verleger Recep Marasli aus den gleichen Gründen immer noch ein. Angesichts Tausender ähnlich gelagerter Fälle kann nur eine Generalamnestie helfen, meinen die Mitglieder des „Vereins für Menschenrechte“. „Revision der Justizirrtümer, Abschaffung der außerordentlichen Gerichte und Aufhebung der unter Folter erzwungenen Geständnisse“, heißt es im Manifest zur Begründung der Amnestieforderung. Der Staat nimmt sie ernst. Zwei Zivilpolizisten beobachteten Tag und Nacht das Istanbuler Büro des Vereins, um ratsuchende Folteropfer zu identifizieren.