Ein „natürliches industrielles Risiko“

■ In Nantes entwich am Donnerstag eine Giftwolke und zog über die kleine Ortschaft Coueron / Rund 10.000 Bewohner ließen sich evakuieren / Die Stimmung war dennoch gelassen / Über die Gilftwolke will niemand wirklich was wissen

Aus Nantes Georg Blume

Um sechs Uhr morgens ist der Marktplatz leer. Die Bevölkerung von Coueron, so lauteten die Nachrichten, ist am Vortag evakuiert worden. Coueron ist eine Kleinstadt zehn Kilometer westlich von Nantes am südlichen Rand der Bretagne. Bin ich nun allein in dieser Stadt? Und welchen Dreck atme ich an diesem grauen Morgen ein? Die Luft reizt leicht die Nase. Gestern zog eine Giftwolke wie dicker Nebel durch die Straßen von Coueron. Um Mitternacht hatte in der Präfektur von Nantes noch reges Treiben geherrscht. Der Krisenstab tagte bis in den späten Abend. Um 21 Uhr hatte der Präfekt Entwarnung gegeben. Die Vergiftungs– und Explosionsgefahr sei beseitigt, und die evakuierte Bevölkerung könne wieder in ihre Städte zurückkehren. Allerdings hielt man bis Freitag am Katastrophenplan ORSEC, d.h. an der Mobilisierung aller öffentlichen Dienste und Teile der Armee, fest. Was war passiert? Ein Düngemittellager im Hafen von Nantes hatte aus bislang unbekannten Gründen am Donnerstag morgen Feuer gefangen. Die Feuerwehr war lange Zeit hilflos, da schwere Löschstoffe die Explosionsgefahr erhöht hätten. Es entwickelte sich eine Giftgaswolke, die unter Ostwinden in die westlichen Vorstadtbezirke von Nantes zog. Gegen 14 Uhr verordnete die Präfektur den Einsatz des Katastrophenplans und die unbedingte Evakuierung der rund 50.000 betroffenen Menschen. Wie hoch die Zahl der Evakuierten schließlich war, weiß man allerdings nicht. Mindestens 10.000, heißt es. „Alle zur Verfügung stehenden Mittel“ kamen entsprechend der Katastrophenplanung zum Ein satz. Die Maßnahmen verliefen nahezu ohne Zwischenfälle. Es gab einige Dutzend Krankenhauseinweisungen wegen Atembeschwerden. Drei Arbeiter des Düngemittelunternehmens erlitten schwerere Verbrennungen. „Das einzige Problem war“, stellte der Generalsekretär der Präfektur Chateau um Mitternacht fest, „daß Eltern in Aufregung gerieten, die ihre Kinder von der Schule abholen wollten und diese nicht mehr vorfanden.“ Chateau betonte, daß alle Entscheidungen in Übereinstimmung mit den Pariser Ministerien getroffen wurden. Welchem Pariser Diktat die Präfektur von Nantes, die dem Innenministerium untersteht, dabei erlag, bleibt offen. Auffallen mußte, daß Innenminister Pasqua bereits um 19 Uhr 30 verkündete, fortan bestehe eine Gefahr nur noch für die Fische in der Loire. Weiter fiel ihm ein, daß die Giftgaswolke nun nicht mehr giftig sei. Die Präfektur entwarnte erst eineinhalb Stunden später. Am Freitag ergaben Messungen der Behörden, daß sich die Verschmutzung der Loire, die hinter Nantes in den Atlantik mündete, um zwanzig Prozent erhöht hat. Das Umweltministerium rechnete mit starkem Fischsterben. Die Luft sei wieder sauber, die Gase hätten sich über den Atlantik verzogen. Doch zurück nach Coueron. Ich merke bald, daß ich doch nicht allein bin in dieser Stadt. Der Bäcker ist schon auf. Und nun räumt auch die Blumenfrau ihre Ware auf den Trottoir. Die Cafes füllen sich. Auf dem Marktplatz ist bereits die städtische Müllabfuhr am Werke. Leere Obstkisten, die nicht evakuiert wurden, werden aufgelesen. „Wir haben die Füße auf der Erde“, sagt der Müllmann. Offenbar geht ganz Coueron an diesem Freitag seinen normalen Gang zur Arbeit. Nur die Schüler haben schulfrei. „Der Wind hat uns verraten“, sagt der Klempner. Stimmt. Normalerweiser weht er hier vom Atlantik her, und dann hätte Nantes und nicht Coueron unter der Wolke gelegen. „Man versteckt sich nicht vor der Gefahr. Wir hätten auch Gräben ausheben können“, sagt die ältere Dame, die heute immerhin die Zeitung kauft. Sie ist gegen den Befehl der Präfektur in Coueron geblieben. „Ich werde doch nicht meinen Hund aufgeben.“ Eine andere Dame hat sich evakuieren lassen. „Ich hatte nur Angst vor der Einsamkeit. Ich wollte nicht allein in der Stadt bleiben.“ Sie hätte sich nicht sorgen brauchen. Viele sind zu Hause geblieben. Niemand in Coueron hat Angst gehabt - außer davor, einsam zurückzubleiben. Niemand ist aufgeregt. Keiner weiß etwas über die Giftstoffe, die gestern (und vielleicht noch heute) in der Luft lagen. Niemand stört das. Der Bürgermeister ist glücklich. Er hat die Situation gemeistert und spricht jetzt vom natürlichen industriellen Risiko. Ein Rechter, denke ich. Doch seine Sekretärin erklärt mir, daß in Coueron noch die Linksunion regiert. Vor dem Rathaus pflanzt ein Gärtner Blumen.