Niederlage

■ Gorbatschows Rede zum Auftakt der Revolutionsfeier

Das Fernsehbild deutete die Rede: In Großaufnahme der sich häufiger als sonst verhaspelnde Gorbatschow; dahinter, etwas schemenhaft, Ligatschow, der „zweite Mann“, der entspannt und aufmerksam zuhörte und sich hin und wieder Notizen machte. Vor einem Monat noch hatte man eine Rehabilitierung nicht nur dieses oder jenes Opfers Stalins erwartet, sondern eine Rehabilitierung der historischen Wahrheit. Nur auf den ersten Blick scheint, wie seit kurzem erwartet, ein Kompromiß heraus gekommen zu sein. Weitere Rehabilitierungen stehen an. Trotzki wird genannt und bleibt der antikommunistische Satan. Stalin habe Großes und Notwendiges geleistet, er konnte „organisieren und disziplinieren“, aber er habe auch über die Stränge geschlagen und viele Verbrechen verübt. Die jetzige Deutung ähnelt jener, mit der Chruschtschows erster Entstalinisierungsversuch gestoppt wurde. Damals aber gab es ein naheliegendes Motiv: Die damalige Führungsspitze war ausnahmslos in das Stalinsche System verwickelt gewesen. Für die heutige trifft das nicht mehr zu. Ihr Motiv ist staatsmännischer. Die geschichtliche Fassade soll geputzt werden und verbindlich bleiben. Die Gegner Gorbatschows haben sich damit durchgesetzt. Der Kompromiß ist keiner. Sinnstiftung ist offiziell wieder an die Stelle historischer Aufklärung getreten. Die Geschichte gehört nicht jenen, die forschen und sich schreibend erinnern, sie gehört der Partei. Und die setzt wie üblich Kommissionen ein, die die Richtlinien festlegen sollen. Sollte sich das durchsetzen, wäre es das Ende eines kurzen kulturellen Sommers. Gorbatschow hätte nicht nur eine Schlacht verloren. Erhard Stölting