Zwei Schritte vorwärts, einen zurück

■ Gorbatschow kritisiert zwar Stalin bei seiner Rede zum 70.Jahrestag der Oktoberrevolution / Die Opfer des Stalinismus sind aber noch nicht rehabilitiert / Vor inneren Feinden und zu schnellen Freunden der Reformen wird gewarnt

Von Erich Rathfelder

Moskau/Berlin (taz) - Michail Gorbatschow rechnete mit den stalinistischen „Deformationen“ ab, die Opfer aber rehabilitierte er nicht. Die dreistündige Rede des sowjetischen Parteichefs aus Anlaß der Feierlichkeiten zum 70. Jahrestag der Oktoberrevolution im Kreml war vom Kompromiß geprägt. Gorbatschow geißelte die Verbrechen des Diktators und hob gleichzeitig dessen Leistungen bei der Industrialisierung und im Zweiten Weltkrieg hervor. Er nannte die von Stalin ermordeten früheren „Unpersonen“ Trotzki, Kamenew, Sinowjew und Bucharin erstmals bei offiziellem Anlaß beim Namen, aber er bezichtigte sie weiter, „Feinde des Sozialismus“ zu sein. Und er lobte Stalin dafür, gegenüber der Opposition in den Zwanziger Jahren den „Leninismus“ verteidigt zu haben. Die Frage der Rehabilitierung bleibt einer Kommission des ZK der KPdSU vorbehalten. In dem auf die Gegenwart bezogenen Teil seiner Rede warnte der Parteichef vor dem „Aufkommen konservativer Kräfte“ in Partei, Staat und Wirtschaft. Gleichzeitig forderte er aber dazu auf, dem Druck derjenigen nicht nachzugeben, die „zu ungeduldig seien“. Die Bürger der Sowjetunion sollten am Prozess des Wandels mitwirken. Die kommenden drei Jahre seien für die Entwicklung der Perestroika entscheidend. Im außenpolitischen Teil kündigte Gorbatschow die baldige Unterzeichnung des Vertrages über den Abbau der Mittelstreckenraketen an. „Der erste Schritt hin zu einer Verschrottung atomarer Waffen ist getan ... dies ist ein großer Erfolg, der auf ein neues Denken zurückgeht, auf die Frucht unseres guten Willens“, lobte er seine Außenpolitik. Von dem Gipfel in Washington erwarte er sich aber „konkrete“ Ergebnisse. Die Begegnung mit Reagan dürfe sich nicht „auf Diskussionen“ beschränken, sondern müsse Fortschritte auch beim SDI–Projekt bringen. Tagesthema Seite 3 Kommentar Seite 4