Die Staatsraison auf der Anklagebank

■ In London begannen am Montag die Revisionsverfahren gegen die „Sechs von Birmingham“ / Nach 13 Jahren Suche nach der Wahrheit / Terroristen oder Opfer eines Justizirrtums?

Aus London Rolf Paasch

Genau 13 Jahre nach den schwersten Bombenanschlägen der IRA in der Geschichte Großbritanniens hat in London am Montag die Revision des Verfahrens gegen die damals als mutmaßliche Terroristen zu lebenslangen Haftstrafen verurteilten sechs irischen Staatsbürger begonnen. Noch in der Nacht der Anschläge auf zwei Gaststätten in Birmingham im November 1974, bei denen insgesamt 21 Menschen getötet und 162 verletzt wurden, waren die sechs Iren auf einer Fähre in die Republik Irland festgenommen worden. Die IRA bekannte sich zu den Anschlägen, während die Angeklagten ihre Schuld stets bestritten. Niemand, weder Polizei, Ankläger noch Richter hatten in der Folgezeit Zweifel an der Schuld der sogenannten „Birmingham six“. Richter Justice Bridge sprach damals in seinem Schlußwort des Terroristenprozesses von der „eindeutigsten Beweislage, die ich jemals in einem Mordfall vorgefunden habe“. Bei dem jetzt auf vier Wochen angesetzten Hearing vor dem Londoner Kriminalgericht Old Bailey konnte am Montag der Verteidiger der sechs, Lord Gifford, zum ersten Mal vor einem Berufungsgericht all die Argumente für die Unschuld seiner Mandanten vorbringen, die bisher nur von den Angehörigen der Angeklagten, von Journalisten und unabhängigen Gutachtern zusammengetragen worden waren: daß die Geständnisse erpreßt wurden; daß die Verdächtigen schwer mißhandelt wurden; daß die medizinischen Gutachten fehlerhaft waren und falsch interpretiert wurden; und daß niemand zur Zeit des Prozesses ein Interesse daran zeigte, die Unschuldsbekenntnisse der Verurteilten einer genauen Überprüfung zu unterziehen. Am Ende waren es die neuen Indizien eines Buches über den Fall der „Birmingham six“, die den zunächst unwilligen Innenminister zur Wiederaufnahme des Verfahrens zwangen. Der Innenminister hatte sich lange gegen eine Revision gewehrt, in der Hoffnung, einen Justizskandal aussitzen zu können. Einer der an den Vernehmungen beteiligten Polizisten hat 1985 geschworen, daß die Geständnisse der sechs mit Gewalt erpreßt worden seien.