Plötzlich waren zwei Polizisten tot

■ Niemand hat die Schüsse gehört / Nach wie vor völlige Unklarheit über Täter, Tathergang und Tatwaffe

Wie kam es am Montag abend zu den tödlichen Schüssen 500 Meter von der Startbahn–West entfernt? Ein Beobachter der taz berichtet über den Verlauf der Demonstration am Montag abend und den obligatorischen Sonntagsspaziergang am Tag davor. Die Verwirrung am Tatort dauerte auch am Dienstag morgen noch an.

Montag, der 2. November, sechster Jahrestag der Hüttendorfräumung an der Startbahn West: Nach einem Polizeiausfall stehen sich Demonstranten und Polizisten an einer kleinen aufgeschütteten Furt gegenüber. Fünfhundert Meter von der Startbahn–Mauer entfernt sind plötzlich zwei Polizisten tot. Es ist zwischen 21.00 und 21.30 Uhr. Die zweitägigen Demonstrationen an der Startbahn hatten am Sonntag mit dem „300. Sonntagsspaziergang“ begonnen. An die 800 StartbahngegnerInnen, unter ihnen auch viele Ältere, waren dem Demonstrationsaufruf gefolgt. Begleitet von aufmunternden Lautsprecherdurchsagen zog der Demonstrationszug zunächst über die Orkriftler Straße. Vor dem Tor 31 im Osten des Flughafens wurden die Ausbaupläne des Flughafenbetreibers FAG erläutert: 41 Hektar Wald sollen demnächst für Hangars, Werkstätten, Verwaltungsgebäude und einen Hubschrauberlandeplatz gerodet werden. Nach der Kundgebung zogen die StartbahngegnerInnen zum „Chaoten–Eck“ im Süden der Startbahn–West weiter. Während die meisten noch gesittet am Stand der Küchenbrigade nach Kaffee und Kuchen anstehen, erklärt die Polizei die Demonstration für beendet. Drei Wasserwerfer des Typs WaWe 9, „Mammut“, verlassen flankiert von drei Hundertschaften das Startbahn–Gelände. Die Demonstranten flüchten in Richtung RWE–Trasse, über die gleiche Wiese, auf der am nächsten Tag zwei Polizisten sterben sollten. Am Sonntag bleibt es ruhig, StartbahngegnerInnen und Polizisten liefern sich lediglich Leuchtspurmunitions–Duelle. Schadensbilanz des ersten Demonstrationstages: ein dabei in Brand geratener Strohballen. Am Montagmorgen begann vor dem Amtsgericht Dieburg ein Massenprozeß gegen siebzig StartbahngegnerInnen. Unisono heißt es in der Anklageschrift: „Gemeinschaftliche Freiheitsberaubung und Nötigung.“ Grundlage für den Prozeß ist eine gewaltfreie Blockade einer am Bau der Startbahn beteiligten Firma im Februar 1982. Am Abend treffen gegen 19.30 Uhr und gegen 19.45 Uhr zwei Demonstrationszüge mit insgesamt etwa fünfhundert Teilnehmern am Objekt ihrer Begierde ein. Ein anwesender Vertreter des Regierungspräsidiums erläßt eine Auf lösungsverfügung. Daraufhin prasseln Steine, Stahlkugeln und Molotow–Cocktails über die Polizisten herein, ein Beobachtungsstand brennt aus, ein Wasserwerfer fängt kurzfristig Feuer. Trotz einer Unmenge geworferner Feuerwerkskörper und Leuchtraketen entschließt sich die Polizeiführung zu einem Ausfall. Es ist 20.15 Uhr, als sich das Südtor öffnet und zunächst zwei WaWes und zwei Hundertschaften ausschwärmen. Ihre Taktik ist die gleiche wie am Tag zuvor: Auf breiter Front schwärmen die Beamten aus und versuchen die Demonstranten in Richtung RWE– Trasse in die nassen Wiesen zu treiben. Warnte am Sonntag noch ein WaWe–Kommandant vor der Möglichkeit, von einem Wasserwerfer überrollt zu werden, wird an diesem Abend unvermittelt auf unbeteiligte Bürger eingedroschen. Der eigentliche Ausfall kommt 500 Meter vom Südtor zum Erliegen: An einer kleinen Furt kommen die WaWes nicht mehr voran, wenige Meter weiter brennen Barrikaden aus Auto–Reifen und Strohballen lichterloh. Hinter ihnen hatten die StartbahngegnerInnen zunächst ihr Heil gesucht. Es ist kurz vor 21.00 Uhr. Obwohl weiterhin vereinzelte Wurfkörper in ihre Richtung fliegen, gestatten sich die Bereitschaftspolizisten eine Verschnaufpause. An ihnen vorbei werden bewußtlose DemonstrantInnen zu Rettungssanitätern gebracht. Aufschlagende Mollis treffen abgelegte Schilder und Helme, Stahlkugeln deren Besitzer. Plötzlich fallen nacheinander mehrere Polizisten um, zwei von ihnen, so wird man später feststellen, sind erschossen worden, zwei weitere sind von Schüssen verletzt worden. Niemand hatte Schüsse gehört, geschweige denn Mündungsfeuer gesehen. Als die Situation begreifbar wird, setzt eine Massenflucht über die Felder ein, überall flackern Barrikaden, die den Rückzug autonomer Gruppen schützen sollten. Am nächsten Morgen liegen weiße und rote Nelken auf einem großen Heuballen derselben Wiese, die am Vorabend das Zentrum der Auseinandersetzung war. Über die Wiese gehen Polizeiketten. Mit ihren Stöcken suchen die Beamten im Gras nach Spuren. Verbeulte Getränkedosen, Zigarettenkippen, Hülsen von Leuchtspurmunition werden eingesammelt und in Plastiktüten verpackt. Die Stimmung ist bedrückt, die Beamten wollen nichts sagen. Ein Reporter fragt sie stereotyp nacheinander nach ihrem Alter. Am Bach stoppte die Polizei, auf der Brücke brannte am Vorabend eine Barrikade aus Holz und Gummireifen. Sie kohlte und rauchte noch heute vormittag. Im Hintergrund schwelt einer der großen Heuballen, die den Demonstranten als Deckung dienten. Überall auf dem langen Weg durch den Wald von Mörfelden– Walldorf liegen Reste von Brandfackeln. Sie sind die Überbleibsel der als Fackelzug angekündigten Demonstration. Im Wald ist es still, große Rudel Damhirsche ziehen über die Wege. Auf einer Brücke, die gut einen halben Kilometer vom Tatort entfernt liegt, schwelt ebenfalls eine zurückgebliebene Barrikade. Sie legt den Schluß nahe, daß auch hier Demonstranten vor Polizisten flüchteten. Auf den Weg zum abgesperrten Tatort haben sich auch zwei junge Frauen auf Fahrrädern gemacht, ein schwarzer Hund läuft nebenher. Sie waren in der Nacht dabei. Ihre „ehrliche Meinung“, sagt eine von ihnen, sei, daß „hier eine Riesensauerei passiert ist, egal von welcher Seite. Das lenkt von jeder anderen Schweinerei ab“. Sie berichtet, sie sei noch gegen 23 Uhr im Wald gewesen. Wenn die Polizei zu dieser Zeit wirklich ernsthaft die Tä ter habe fangen wollen, „dann hätten die nur einsammeln müssen.“ Jede Menge Ortsfremde seien noch im Wald rumgelaufen. Sie seien aber von den über zwanzig Einsatzwagen, die durch den Ort kurvten, nicht behelligt worden. Eine andere Bürgerinitiativlerin sagt, sie sei entsetzt. „Acht Jahre unserer Arbeit werden jetzt diskreditiert.“ Und: „Schön, früher ist mal ein Molli geflogen, mal gezündelt worden. Aber doch nicht sowas!“ An den startbahnüblichen Treffpunkten ist niemand zu sehen. Am Parkplatz vor dem SKG– Heim, dem örtlichen Sportverein Walldorf, stehen ein Bauarbeiter mit Karre und Schippe, ein Taxifahrer und ein Passant. Sie haben sich schon einem anderen Thema zugewandt. Vor dem Supermarkt reden vier Frauen miteinander. Mühlselig suchen die Aufnahmeteams des Rundfunks auf den leeren Straßen ihre Tonaufnahmen zusammen. Eine Frau sagt: „Mörfelden–Walldorfer sind das bestimmt nicht gewesen!“ Bürgermeister Brehl, der ebenfalls in den Wald gekommen ist, nahm zu dem Geschehen Stellung: „Man kann es als terroristisch bezeichnen!“ Heiß und kalt sei es ihm den Rücken heruntergelaufen. Er wies aber auch darauf hin, daß nicht ganze Gruppen für den Anschlag verantwortlich gemacht werden könnten: „Nur der Täter ist schuldig.“ Im Wald geht währenddessen die Spurensuche weiter. Über dem Gelände kreist ein Hubschrauber. Die Flugzeuge donnern über die Köpfe der Polizeibeamten hinweg zur Startbahn West. Hinter einer rotweißen Absperrung sind schwarzweiße Hütchen und Markierungen für die Fundorte der zahlreichen eingesammelten Gegenstände aufgestellt. Schraubenmuttern, Metallstücke, Plastikabfälle kommen zutage. Auch Fußabdrücke werden gesichert. Fotografen mit riesigen Spezialkameras machen „Stereo–Fotos“. Ein Polizeibeamter beantwortet dann doch eine Frage. Wo haben die toten Beamten gelegen? Er sagt, das könne nicht mehr rekonstruiert werden, weil die Männer in Eile ins Krankenhaus abtransportiert worden seien. Er deutet mit der Hand vage ins Gelände. Die Stelle, die er ungefähr meint, liegt genau vor einem brennenden Heuballen. Demonstrationsteilnehmern zufolge liegt sie genau zwischen den Fronten, die Demonstranten und Polizei gebildet hatten, ehe die Schüsse fielen. Später bestätigt eine Rundfunkmeldung, was ein Demonstrant schon berichtet hatte. Er habe gehört, sagte der junge Mann, daß am Montagabend noch einmal irgendwo geschossen worden sei. Zweimal, meldet der Hessische Rundfunk, seien bei Festnahmen Warnschüsse von Polizisten abgegeben worden.