Schichtwechsel an Bourguibas Hof

■ Tunesischer Premierminister stürzt den „Präsidenten auf Lebenszeit“ / Ärzte bescheinigten dem „Obersten Kämpfer“ Hinfälligkeit / Neuer Präsident Ben Ali kündigt Liberalisierungen an

Tunis (afp) - Erstmals seit dem Erreichen der Unabhängigkeit im Jahre 1956 hat Tunesien am Samstag den Präsidenten der Republik gewechselt. Das höchste Staatsamt übernahm Zine al Abidine Ben Ali, der am 2.Oktober vom Präsidenten „auf Lebenszeit“, Habib Bourguiba, zum Ministerpräsidenten ernannt worden war. Die Entmachtung des „Obersten Kämpfers“ vollzog sich ungewöhnlich, aber verfassungskonform. Aufgrund eines ärztlichen Bulletins, in dem sieben Professoren dem 84jährigen Bourguiba „Hinfälligkeit“ bescheinigten, wurde der Ministerpräsident Ben Ali nach Artikel 57 der Verfassung automatisch Präsident und Oberkommandierender der Streitkräfte. In einer Erklärung, die Ben Ali morgens um 6.30 Uhr im Radio selbst verlas, kündigte er an, daß die Verfassung revidiert werde, da „das Zeitalter, in dem wir leben, weder eine Präsidentschaft auf Lebenszeit noch eine automa tische Nachfolge an der Spitze des Staates verträgt“, wodurch das Volk ausgeschlossen worden sei. Die tunesische Bevölkerung, die frühmorgens vom Machtwechsel überraschte wurde, reagierte eher zuversichtlich auf die Neuigkeit. Schon die Ernennung Ben Alis (51) zum Regierungschef war als Hoffnungszeichen für eine modernere Führung der Staatsgeschäfte gewertet worden. Auch die Opposition äußerte einhellige Zustimmung zur Absetzung Bourguibas. Die Bewegung der Demokratischen Sozialisten (MDS) nannte sie „eine Maßnahme von nationalem Interesse“. Fortsetzung auf Seite 6 Siehe auch Porträt Seite 7 Kommentar Seite 4 Da er sich nicht rechtzeitig zur Ruhe gesetzt habe, sei es Bourguiba nicht gelungen, dem Lande „schmerzliche Zerissenheit, politische Prozesse, Ausnahmegesetze, wirtschaftliche und soziale Blockade, Rache und Haß zu ersparen“, erklärte Ahmed Mestiri, der Generalsekretär dieser größten legalen Oppositionspartei. Zugleich forderte die MDS eine umfassende Amnestie für politische Gefangene und freie politische Betätigung. Zehn Politiker aus der Umgebung Bourgibas wurden „vorbeugend“ festgenommen, darunter sein Privatsekretär, sein Sohn und die abgesetzen Minister Mohammed Sayah und Mansour Skhiri. Während der öffentlichen Vorstellung seiner neuen Regierung erklärte Ben Ali am Wochenende, Tunesien würde ein neues Presse– und Parteiengesetz erhalten, das größere innenpolitische Freiheit garantieren solle. In den arabischen Nachbarländern wurde der Machtwechsel mit verhaltenem Wohlwollen, jedenfalls ohne Besorgnis zur Kenntnis genommen. Als erstes europäisches Land reagierte die ehemalige Kolonialmacht Frankreich. Das Pariser Außenministerium würdigte Bourguiba als „Gründer des modernen Tunesien“. Gleichzeitig wurden dem nordafrikanischen Land für seine Zukunft die besten Wünsche ausgesprochen.