Serie Abrüstung oder Umrüstung - Teil 10
: Eine gewisse Ernüchterung über die USA...

■ ... macht sich in der CDU breit / Karl Lamers, Außenpolitiker der Union, macht sich stark für eine europäische schnelle Einsatztruppe und eine Kooperat

taz: Herr Lamers, auch in Ihrer Partei wird inzwischen vehement über den zweiten Pfeiler in der NATO, die „Selbstbehauptung Europas“ und deutsch– französische Militärzuammenarbeit diskutiert. Wie würden Sie die Motive für diese Debatte in Ihrer Partei beschreiben? Lamers: Der Selbstbehauptungswille Europas ist durch alle Schattierungen meiner Fraktion das treibende Element. Es geht um Zukunftssicherung im umfassenden Sinne, keineswegs nur um die militärische Sicherheit. Dazu gehört auch die Wettbewerbsfähigkeit Europas im wirtschaftlichen und technologischen Bereich. Und dazu gehört, eine Rolle in der Welt zu spielen, die unserem Selbstwertgefühl entspricht. Diese ist ganz gewiß in erster Linie die friedensstiftende Diplomatie und Entwicklungshilfe, aber wir können auch nicht so tun, als ob es militärische Sicherheitsprobleme nur im Ost–West–Verhältnis gäbe. Der Tschad– und der Golfkrieg sind zwei Beispiele für auch Europa betreffende Sicherheitsprobleme in der Dritten Welt. Ich weiß, daß sich Dritte–Welt–Probleme nur in Ausnahmefällen mit militärischen Mitteln lösen lassen. Aber man kann nicht so tun, als gebe es diese Sicherheitsprobleme nicht. Das ist ein sensibles Thema, wie der Streit um die Entsendung von bundesdeutschen Marineschiffen in den Golf wieder zeigt. Wenn wir schon davon reden, alle außenpolitischen Maßnahmen zu europäisieren, wäre es wünschenswert gewesen, die WEU sofort zu Beginn einzuschalten. Für die Zukunft ist der Vorschlag der britischen Bow– Gruppe überlegenswert, im Rahmen der WEU eine Art schnelle Eingreiftruppe auch für solche Einsätze außerhalb des NATO– Gebietes zu schaffen. Die „Bow Group“ ist ein Klub konservativer Vordenker, zu dem v.a. Abgeordnete des Unterhauses gehören. Anm. d. Red. Damit meine ich nicht, daß wir deutsche Kriegsschiffe oder auch nur Minenräumboote in den Golf schicken sollten. Im übrigen wollen auch die Länder der Dritten Welt einen Partner, der ihnen eine dritte, eine europäische Option zwischen den beiden Großmächten bietet. Und aktuelle Auslöser für die Europäisierungs–Debatte in Ihrer Fraktion sehen Sie nicht? Für das Selbstwertgefühl einer jeden Gesellschaft ist natürlich von Bedeutung, ob sie ihre eigene Sicherheit gewährleisten kann, oder ob sie in existentieller Weise abhängig ist. Das hat sich 1983 - vor allem im linken Spektrum - in der Auseinandersetzung um die Stationierung neuer Mittelstreckenwaffen gezeigt. Hier hat sich vielleicht die Einstellung zu den USA zwischenzeitlich zu ändern begonnen, weil den Amerikanern jetzt eher zugetraut wird, daß sie abrüsten wollen. Heute ist in meinem politischen Spektrum eine gewisse Ernüchterung über die Interessenlage der USA eingetreten. In den USA hat es ja immer eine antinukleare Grundströmung gegeben. Nehmen Sie die Reagan–Rede zu SDI aus dem Jahre 1983, in der die atomare Abschreckung für moralisch verwerflich erklärt wurde. Das hat mit einiger Verspätung in Europa und in der Union seine Wirkung getan. Hinzu kommt die in den USA zunehmende Tendenz, Truppen aus Europa und der Bundesrepublik zurückzuziehen. Eine Rolle spielen da natürlich auch die neuen sowjetischen Tendenzen in der Außen– und Abrüstungspolitik. Diese Initiativen zielen vorrangig auf den atomaren Bereich und gewiß auch auf die amerikanische Präsenz in Europa. Allerdings glaube ich nicht, daß die Sowjetunion die Amerikaner schnell und vollständig aus Europa heraus haben will. Damit würde sie auch die eigene Position in den Warschauer–Pakt–Staaten in Frage stellen. Außerdem würde das in Westeuropa einen Schock auslösen und die Bestrebungen zur Schaffung einer westeuropäischen Verteidigungsidentität verstärken. Das wollen die Sowjets nicht. Für mich ist ein Prüfstein für die neue sowjetische Politik, ob sich die Sowjets mit einer westeuropäischen Verteidigungsunion abfinden werden. Es ist wichtig, daß Westeuropa keinen Ansatz bietet für hegemoniale Politik der Sowjetunion. Sie kennen das Sprichwort: Gelegenheit macht Diebe. Wie wahrscheinlich ist in den Augen ihrer Fraktion eigentlich ein Truppenrückzug der Amerikaner? Es wäre interessant, die Initiativen einmal zu zählen, die im amerikanischen Kongreß dazu schon eingebracht worden sind. Aber die Fragezeichen werden größer, gewiß. Das ist ein zusätzliches Motiv: Wir müssen uns auch von solchen Unwägbarkeiten befreien und das Maß an Abhängigkeit reduzieren. Aber Sie und Ihre Fraktion wollen die erweiterte französische Abschreckung als eine zusätzliche Atomgarantie für die Bundesrepubik? Diese Frage läßt sich im Moment nur theoretisch beantworten. Noch sind die Voraussetzungen nicht gegeben. Zunächst bedürfte es eines ganz entscheidenden Schritts in Frankreich selbst. Das erfordert Zeit, und dann müßten mindestens drei Bedingungen erfüllt sein: Erstens müßte Frankreich über genügend Potential verfügen. Der Umfang hängt natürlich auch vom Gang der Abrüstungsverhandlungen ab. Das wäre zweitens abhängig von der Entwicklung einer europäischen Verteidigungsstruktur. Und drittens müßte die deutsche Position berücksichtig sein: Unsere Position dürfte nicht schwächer sein, als die heutige im Verhältnis zu den USA. In jedem Fall ist die Bedingung für die Entwicklung einer europäischen Sicherheitsunion, daß sich die USA in Europa nicht nuklear entbunden fühlen. Natürlich können Sie die Fragen nur theoretisch beantworten, solange in Frankreich noch nichts entschieden ist. Aber will die Union eine französische Atomgarantie? Oder wird der alte Konflikt aus den 60er Jahren zwischen Gaullisten und Atlantikern wieder aufbrechen? Diesen Konflikt kann es so nicht mehr geben. De Gaulles Politik zielte darauf ab, die US–Präsenz in Europa in einem Maße zu reduzieren, die die Atlantiker bei uns nicht mittragen konnten. Heute ist die französische Position völlig anders. Frankreich möchte die US– Präsenz in Europa sichern. Der beste Beweis ist der Auftritt Mitterrands vor dem Bundestag bei der Stationierungsdebatte im Jahre 1983. Die Frage ist für mich nur: Wollen die Franzosen das, um unter dem Dach der amerikanischen Atomgarantie die Europäische Sicherheitsunion zu grün den? Oder wollen sie die US–Präsenz, um selbst nichts zu verändern? Welche Linien würde Sie denn in Ihrer Partei heute ausmachen? Haben die Konservativen in dieser Frage ein gemeinsames Konzept? Ich sehe heute wesentlich weniger Unterschiede als früher. Die Motive mögen unterschiedlich sein: Bei den einen mag das mehr eine Ernüchterung sein, und man will verhindern, daß die Amerikaner ihr Engagement in Europa reduzieren, ohne daß wir darauf vorbereitet sind. Hinzu kommt das Wechselspiel zwischen der neuen sowjetischen Politik und der amerikanischen. Bei anderen mag mehr das Grundsätzliche, der Selbstbehauptungswille Europas, dahinterstehen. Warum dann aber die öffentliche Distanzierung des Bundeskanzlers von Fraktionschef Dregger? Dregger hatte für die BRD die Nukleargarantie Frankreichs befürwortet. Kohl wies ihn zurecht. Ich sehe keine Distanzierung, sondern unterschiedliche Akzentsetzungen aufgrund unterschiedlicher Funktionen. Sie wissen, das ist ein sensibles Thema. In Frankreich ist der Meinungsbildungsprozeß noch nicht abgeschlossen, da gibt es verschiedene Interessen, denken Sie nur an die unterschiedlichen Äußerungen von Staatspräsident Mitterrand und Verteidigungsminister Giraud. Und ein Regierungschef muß andere Rücksichten nehmen als ein Fraktionschef. Das ist auch eine Frage der taktischen Einschätzung. Kohl war sicher gut beraten, auf die französischen Meinungsbildungsprozesse Rücksichten zu nehmen. Und es darf keinesfalls der Eindruck erweckt werden, als wollten wir die USA aus der Bundesrepublik hinauskomplimentieren. Auch eine erweiterte französische Abschreckung für die Bundesrepublik wäre auf abseh bare Zeit nur komplementär vorstellbar zur amerikanischen. Dann hat also Ihr Fraktionschef Dregger das Richtige zum falschen Zeitpunkt gesagt? Ob das der falsche oder richtige Zeitpunkt war, wird sich zeigen. Man kann sich auch vorstellen, daß die Äußerungen Dreggers in Frankreich bestimmte Diskussionen gefördert haben. Wie ich bereits sagte: Ein Fraktionschef muß weniger Rücksichten nehmen als ein Mitglied der Regierung oder der Regierungschef selbst. Aber die erweiterte französische Abschreckung ist mit Sicherheit keine Frage, wo man eine essentielle Differenz zwischen Dregger und anderen Teilen der Union festmachen könnte. Wenn wir atomar anfangen, kommen wir nicht weiter. Wir müssen im konventionellen Bereich mit der deutsch–französischen Zusammenarbeit beginnen. Die Manöver waren ein guter Anfang. Und die Aufstellung der gemeinsamen Brigade wird hoffentlich eine Dynamik entwickeln, die weit über die Manöver hinausreicht. Was wir brauchen, ist eine gemeinsame deutsch–französische Bedrohungsanalyse und ein gemeinsames, aufeinander abgestimmtes Strategie– und Streitkräftekonzept. Erst auf dieser Grundlage kann man auch ein gemeinsames Abrüstungskonzept entwickeln. Sehen Sie in der vergangene Woche verabschiedeten Plattform der WEU Ansätze einer neuen europäischen Verteidigungsstruktur? Die Plattform bringt eine gemeinsame Sichtweise und einen gemeinsamen Willen zum Ausdruck. Das ist gut so, aber eine europäische Verteidigungsstruktur kann sich nur entwickeln über die Achse Bonn–Paris. Der vorgesehene Verteidigungsrat kann der Ort werden, aus dem das hervorgehen könnte, was man Europäische Sicherheitsunion nennt. Auch der sogenannte Verteidigungsrat ist bisher Symbolik. Sachlich ist das nur ein anderes Wort für den Gemeinsamen Ausschuß. Gewiß, sachlich ist das zunächst dasselbe. Aber der Verteidigungsrat ist eine höhere Ebene, und die Möglichkeiten, dort etwas durchzusetzen, sind natürlich größer, als dies auf Beamtenebene der Fall ist. Die Grünen haben ja vorgeschlagen, daß die Bundesrepublik ihren Atomwaffenverzicht im Grundgesetz festschreibt. Wie steht die Union zu dieser Initiative? Ich glaube nicht, daß diese Initiative erfolgreich sein wird. Dahinter steht ja der Verdacht, die Bundesrepublik würde nach eigenen Atomwaffen streben. Diese Vermutung ist absurd. Wenn die Union dieser Initiative zustimmen würde, würde sie sich diese Argumentation zu eigen machen. Und hinter der grünen Initiative steht auch das grundsätzliche Nein zur atomaren Abschreckung. Für die deutsch–französische Zusammenarbeit wäre das jetzt ein völlig falsches Signal. Eine gemeinsame Sicherheitspolitik kann nur bei Übereinstimmung in der Notwendigkeit atomarer Abschreckung für die absehbare Zukunft zustandekommen. Für die SPD ist das ein Problem. Wir haben da mit Frankreich keine Differenzen. Interview: Ursel Sieber