Die „eingebaute Unruhe“ der CDU in Hochform

■ Geißlers Rede auf dem CDU–Parteitag überragte Kohls Rundumschlag zu Frieden, Freiheit und Wahrhaftigkeit Plädoyer für Auseinandersetzungen in der Partei und gegen Harmonieseligkeit / Frauenpolitik in Form von Ordensverleihung an Mütter

Aus Bonn Oliver Tolmein

„Immer mehr Menschen sehen sich im Zwiespalt widerstreitender Gefühle.“ Der erste Satz im Bericht des Parteivorsitzenden Kohl auf dem gestrigen Bundesparteitag der CDU traf in erster Linie auf ihn selber zu: Einerseits mußte er sich zu heiklen Ereignissen wie der Barschel/Pfeiffer–Affäre äußern, andererseits wollte er bei keiner Gruppe in der Partei anecken. Also blieb er diffus, ließ kein Thema aus und sagte doch nichts. Vertrauen und Wahrhaftigkeit, Polizistenmorde und Steuerpolitik, Frieden und Freiheit - der Kanzler hielt eine Wahlkampfrede, nur daß es keinen Wahlkampf gab. Die Delegierten merkten es, aber sie waren nicht verstimmt. Sie spendeten Applaus, tranken draußen Kaffee, und strömten erst wieder in die überfüllte Beethovenhalle, als Generalsekretär Heiner Geißler ans Rednerpult ging. Geißler kämpfte: für seine Lagertheorie, für strategische Auseinandersetzungen in der Partei, gegen eine „Legende von der CDU“, die nach den Kieler Ereignissen aufgebaut werde, und gegen die SPD. Im Zentrum seiner Rede, die im Gegensatz zu Kohls Beitrag immer wieder von Applaus unterbrochen wurde, standen jedoch Überlegungen zu politischen Grundsatzfragen und die Aufforderung an die Partei, nicht nach Harmonie zu streben, „sondern Auseinandersetzungen um den richtigen Weg (zu führen)“. Es sei nach den Ereignissen in Kiel unmöglich, „zur Tagesordnung überzugehen“. Es gebe zwar keine Glaubwürdigkeitskrise des Rechtsstaates, aber eine „schwere Vertrauenskrise gegenüber den politischen Parteien“. Und das sei nicht die Schuld irgendwelcher anderen, dafür trage man selber die Verantwortung: „Wir müssen deshalb schmerzhafte Arbeit leisten.“ Geißler kritisierte, ohne den Namen zu nennen, Uwe Barschel: „Eine Partei leidet und trägt schwer, wenn diejenigen, die führen, nicht solidarisch sind gegenüber denjenigen, auf deren Schultern sie stehen... Wer Macht hat, muß sein Bestes geben in der Sache, in seiner öffentlichen Darstellung, in der Auswahl seiner Mitarbeiter.“ Ausdrücklich in Schutz nahm Geißler Gerhard Stoltenberg, Klaus Kribben und die gesamte schleswig–holsteinische CDU– Fraktion: „Sie alle haben von den Machenschaften des Herrn Pfeiffer nichts gewußt.“ Deswegen sei die Kritik, die aus der SPD an ihnen, speziell an Stoltenberg, laut werde, eine „Diffamierung der Person“. Dort aber sei die wichtige Scheidelinie zu sehen: „Der Streit zur Sache ist politische Kultur, politische Unkultur ist die Diffamierung der Person.“ Diese Diffamierung habe auch die CDU in der Vergangenheit betrieben: Es sei falsch gewesen, Wehner als verkappten Kommunisten anzugreifen und Willy Brandt, weil er ein uneheliches Kind war. Aber auch die SPD müsse eingestehen, daß sie 1980 eine „beispiellose Hetzkampagne gegen Strauß inszeniert hat“. Auf die Wahlverluste seiner Partei bei den letzten Wahlen bezogen verteidigte Geißler sein Werben um neue Wählerschichten vehement. Es gehe dabei keineswegs um Links– oder Rechtsrutsche: „Wir sind das Weltkind in der Mitte.“ Aber wie solle Blüm in Nordrhein– Westfalen von 36 Prozent auf 46 Prozent der Stimmen kommen, „wenn es ihm nicht gelingt, neben der Mobilisierung der Stammwähler neue Wählerinnen und Wähler hinzuzugewinnen?“ Die CDU sei nicht in den siebziger Jahren die Regierungspartei der Achtziger geworden, weil sie in die Fünfziger zurückgeblickt, sondern weil sie in die neunziger Jahre vorausgeschaut habe. Geißler beendete seine Rede mit einem Appell, die Position der Frauen in der Partei und in der Öffentlichkeit zu stärken. Dazu gehöre auch, daß bei der Ordensvergabe häufiger an sie gedacht werde: „Hat sich nicht die Mutter, die ihre Kinder erzieht oder ihre Angehörigen pflegt, nicht um das deutsche Volk verdient gemacht?“ Nach Geißlers Rede gab es mehrere Minuten Applaus. Norbert Blüm dankte dem Generalsekretär: „Heiner Geißler ist die eingebaute Unruhe in die Partei - das brauchen wir ebenso wie die Kontinuität.“