Sturmschäden auf dem Dach der Welt

■ Nach den Unruhen des vergangenen Monats in Tibet: Razzien, Einschüchterungen und Gehirnwäschen durch die chinesische Armee / Paramilitärisdche Einheiten haben in den Klöstern Einzug gehalten / Doch nicht alle Tibeter haben für die Aufständischen Sympathie / Der letzte Bericht vor dem Einreiseverbot für Journalisten

Von Jürgen Kremb

„Es wird schwer sein, die Wunden der letzten Tage zu heilen“, sagt der mittelalterliche Tibeter nachdenklich, während er auf den Konvoi von schwer bewaffneten chinesischen Soldaten blickt. „Auch Leute, die mit den Unruhen in Lhasa gar nicht einverstanden waren, können sich dieser Tage schwer des Eindrucks erwehren, daß die Volksbefreiungsarmee hier Besatzer ist.“ Mitte Oktober ist Lhasa, die Hauptstadt des chinesischen „autonomen Gebiets Tibet“, eine Stadt im Belagerungszustand. Täglich das gleiche Bild. Unweit des Jogkang Stadttempels, wo die blutigen Unruhen auf dem Dach der Welt am 27. September ihren Anfang nahmen, praktiziert die Armee aus Beijing (Peking) Abschreckung. In einer stillen, bedrohlichen Demonstration parken bisweilen drei, manchmal aber bis zu neun Armeelastwagen in der Nachmittagssonne. Auf der Ladefläche stehen genau 30 junge Rekruten der chinesischen Armee oder der bewaffneten Volkspolizei in ihren grünen Uniformen Rücken an Rücken. Einen Stahlhelm tief ins Gesicht gezogen, tragen sie vor der Brust schußbereit das chinesischen Sturmgewehr AK 47 und starren in die Menge der umstehenden Tibeter. Vor jedem Laster ist jeweils ein Seitenwagen–Motorrad postiert, auf dem zwei Offiziere Platz genommen haben. Im Seitenwagen selbst liegt, mehr als er sitzt, ein junger Soldat, der sich krampfhaft an die Bügel eines aufgepflanzten Maschinengewehrs klammert. Auch Außenstehende fühlen hier förmlich den Haß, der sich zwischen Tibetern und Han–Chinesen aus dem Osten Chinas wieder breit zu machen beginnt. Derweilen haben sich auf den Dächern der Lhasaer Altstadt Uniformierte in Sturmausrüstung niedergelassen. Auf einem neuen Kaufhausrohbau, der die Metropole des tibetischen Lamaismus ein Stück mehr zur ganz normalen chinesischen Stadt entstaltet, wurden Batterien von Lautsprechern installiert. Da neben stehen Offiziere, die mit ihren Feldstechern die Pilger ins Visier nehmen, während Soldaten neben ihnen ständig Tränengasgranaten im Anschlag haben. Noch sind es weniger Gläubige als an anderen Tagen, die wieder zum allerheiligsten Zentrum des Lamaismus pilgern. Wie ihre Ahnen, messen viele von ihnen den Pilgerweg um den Jogkang, den Barkhor, mit ihrer Körperlänge aus. Stundenlang ziehen sie im Uhrzeigersinn um das Allerheiligste, werfen sich in den Staub der Straße nieder, stoßen ein Gebet aus oder schieben eine der 108 Perlen des buddhistischen Rosenkranzes weiter. Einige sind aus den entlegensten Landesteilen hierher gelaufen und haben dabei den Weg mit ihrer Körperlänge ausgemessen - in der steten Hoffnung auf eine günstigere Wiedergeburt. Für die chinesische Regierung ist dies ein entsetzlicher Aberglaube, den man, trotz garantierter Religionsfreiheit, hofft, bald ausgerottet zu haben. Eine Hoffnung, die trügerisch ist, denn noch immer sind unter den Pilgern viele junge Leute. Mitte Oktober zeugen nur noch die gespannte Stimmung und die hektischen Aufräumarbeiten an der völlig zerstörten Polizeiwache von den Unruhen. Mehrmals pro Stunde plärren Lautsprecher um den Jogkang–Tempel die Weisung der chinesischen kommunistischen Partei zu den Unruhen aus, denen am 1. Oktober zwischen sechs (offizielle Angaben) und 19 (Nachrichtenagentur Reuter) Menschen zum Opfer gefallen sein sollen. Die protestierenden Jugendlichen und Mönche werden darin Seperatisten und Aufrührer genannt, die vom Ausland, sprich von der USA, und dem Dalai Lama im Exil gesteuert wurden. Lautloser und unsichtbarer vollzieht sich allerdings die Gehirnwäsche in den Tempeln und Klöstern. Bis zur Ausweisung der ausländischen Journalisten aus der autonomen Region in der zweiten Oktoberwoche waren die Klöster als Zentren der einstigen Macht des Dalai Lamas ganz geschlossen. Zivilbeamte haben dort Einzug gehalten. Gut fünf Dutzend dieser betont unauffälligen Herren, den hellen Popelin–Mantel über einen blauen Mao–Anzug gestreift, haben sich vor dem Drepung–Kloster zusammengerottet. Paramilitärische Einheiten bewachen die Zugänge und haben sich im Gebüsch versteckt. „Bei uns haben sich etwa 50 Zivilbeamte eingenistet“, flüstert mir ein junger Mönch im Jogkang– Tempel zu. „Sie veranstalten täglich eine Selbstkritik–Versammlung, in der sich die an den Unruhen Beteiligten selbst stellen und wir alle unsere falsche Einstellung gestehen sollen.“ In ähnlichen Zwangsveranstaltungen in den großen Klöstern hatten die Behörden den Aufrührern ein Ultimatum bis zum 15. Oktober gestellt. Wer sich freiwillig stelle, käme glimpflich davon, hieß es. Danach müsse mit lebenslanger Haft oder Todesstrafe gerechnet werden. Dennoch, „niemand hat sich schuldig bekannt“, berichtet ein Mönch noch zur Monatsmitte. Wie auf dem Dach der Welt verbliebene Beobachter in Telefongesprächen nach Beijing berichten, wurde das Stadtzentrum von Lhasa in den letzten Tagen bei Razzien Haus um Haus auf der Su che nach Regimegegnern durchkämmt. Ausländische Zeugen gibt es kaum noch in der Stadt. Schon Anfang des Monats „sind alle Telefon– und Telex–Leitungen ins Ausland zusammengebrochen“, wie das Fräulein vom Amt Tag um Tag hilfloser betont. Chinesische Polizisten scheuchten nachts Einzelreisende, die den Protest fotografiert hatten, aus ihren Betten, um ihre Filme zu beschlagnahmen. Jetzt verkünden amtliche Aushänge in Englisch überall in der „autonomen Region“: „Individualreisende müssen zur eigenen Sicherheit Tibet sofort verlassen.“ Das Dach der Welt wird vorerst wieder „religiöses Disneyland für Pauschaltouristen sein“, so ein deutscher 10.000–Mark–Tourist. Wenn man in den Klöstern und Straßen nach den Ursachen der Unruhen fragt, hört man immer wieder das gleiche Argument: „Tibet muß frei sein und der Dalai Lama zurückkehren.“ Das bedeute freilich nicht ein Wiederherstellen der alten feudalen Ordnung, wie Wangpo Thong als Vertreter von jungen Exil–Tibetern in Deutschland gegenüber der Presse erklärte. Schon vor der Flucht des Dalai Lama mit mehr als 80.000 seiner Anhänger im Jahr 1959 hat es Reformansätze auf dem Dach der Welt gegeben. Im indischen Exil haben sich die Tibeter sogar eine neue Verfassung geschaffen, in der den Mönchen die politische Macht entzogen worden ist und ihr geistiges Oberhaupt und Gottkönig Dalai sogar mit einer Zweidrittel–Mehrheit des Parlaments von seinen weltlichen Aufgaben verbannt werden kann. Welche Tragik nur, daß kein Land auf Erden diese Regierung anerkennt. Unwidersprochen orientiert man sich da am Anspruch der chinesischen Regierung, die Tibet schon seit Jahrhunderten als festen Bestandteil Chinas ansieht. Dennoch ist der Anspruch einer tibetischen Souveränität ein unerfüllbarer Wunschtraum. 7,5 Millionen Han–Chinesen haben die gerade 1,8 Millionen Tibeter zur Minderheit im eigenen Land gemacht. Auf dem Dach der Welt werden neben Gold und Uran noch zahlreiche andere Rohstoffe vermutet. Es ist Chinas strategisches Aufmarschgebiet zum befeindeten Indien, und außerdem lösen schon bloße Unruhen in Tibet ein mögliches Fanal unter anderen chinesischen Minderheiten aus. Deshalb beschränkt sich die Forderung des Dalai Lama auf die Herstellung eines autonomen Tibet im chinesischen Staatenbund. „Was wollen diese Aufrührer denn eigentlich außer Unruhe stiften“, fragt mich deshalb recht erzürnt ein junges tibetisches Mädchen in Lhasa. Und ein älterer Lhasaer: „Gerade jetzt geht es uns erstmals wieder gut und es besteht weitgehend Religionsfreiheit.“ Das ist eine Ansicht, die nicht selten anzutreffen ist unter vielen Städtern in Tibet, die ihren Frieden mit den Chinesen geschlossen haben. Schließlich wurde ihnen die Steuer für 15 Jahre erlassen, und im Gegensatz zu den Han dürfen sie zwei Nachkommen in die Welt setzen. Andere Landsleute haben aber die zahlreichen Menschenrechtsverletzungen der Chinesen noch nicht vergessen. Allein in der Kulturrevolution wurden 6.000 (nicht 1.600, wie fälschlich berichtet wird) Klöster zerstört. Kein Teil Chinas litt während der „zehn Jahre Wirren“ (offizielle KP– Sprachregelung) so schwer. amnesty international berichtet auch heute noch von Arbeitslagern und Gefängnissen in dem „autonomen Gebiet“, in dieas Regimegegner eingewiesen werden. Kurz vor Ausbruch der jüngsten Unruhen hatte die Stadtregierung 15.000 Lhasaer zu einer Kundgebung versammelt, auf der die öffentliche Hinrichtung von zwei Landsleuten bekannt gegeben wurde. Hat die chinesische Regierung in den letzten Jahren versucht, das zugegebenermaßen zerschlagene Porzellan der Kulturrevolution und Besetzung so gut es geht wieder zusammenzuflicken, so ist dieser Vorfall wiederum ein erneuter Beweis für noch immer nicht allzu sensible Minderheitenpolitik.