Das Dilemma

Aktueller und sachlicher Kern der Kontroverse, die die hier abgedruckte Darstellung des Zentralrates der Sinti und Roma veranlaßte, ist folgendes Dilemma: Am 2. November stellten die Koalitionsparteien einen Antrag zur „Entschädigung von Opfern der NS–Herrschaft“ der Öffentlichkeit vor, eine neue „Härteregelung“, die als „endgültige Abschlußregelung“ bezeichnet wird. 50 Millionen Mark für das Jahr 1988 und 300 Millionen Mark insgesamt sind vorgesehen. Damit hat sich die Bundesregierung nach langen Jahren in der Frage der Entschädigung von NS–Opfern - trotz des wütenden Widerstands von Finanzminister Stoltenberg - zum ersten Mal bewegt. Verfolgtenverbände begrüßten denn auch den Antrag „als ersten Schritt“. Gleichzeitig befürchten die Verfolgtenverbände und vor allem Grüne und SPD, daß dieser erste Schritt auch der letzte sein wird: Insbesondere die Gesetzentwürfe von den Grünen (“angemessene Versorgung“, d.h. gewissermaßen Ehrenrente für NS–Opfer) und der SPD (“Stiftung zur Entschädigung“) könnten mithin ihre Chancen im Parlament verloren haben. Der Koalitionsentwurf und vor allem seine Behandlung im Innenausschuß Anfang November deuten an, daß die Bundesregierung weitergehende Regelungen abblocken will. Obwohl der Entwurf schwammig und zum Teil völlig den Ergebnissen der Anhörung von NS–Opfern im Juni widerspricht (Ablehnung von Mitbestimmung bei der Vergabe durch die Betroffenen; Behauptung des Territorialitätsprinzip, das z.B. nicht–deutsche NS–Opfer ausschließt), wurden Änderungsanträge von den Grünen und der SPD abgelehnt. Antje Vollmer (Grüne) nennt den Entwurf „die schlechteste Lösung, wenn man mehr als nichts machen will“. Das Dilemma für die Verfolgtenverbände sieht so aus: Lehnt man das Regierungsangebot ab, um das Stiftungsmodell durchzusetzen, hat man frühestens - wenn überhaupt - eine Lösung im Jahre 1990. Aber die NS–Opfer sind alt und brauchen jetzt finanzielle Hilfen. Aus diesem Grunde macht vor allem der Zentralrat der Sinti und Roma Druck, daß die Vergaberegelungen des Koalitionsantrags geändert werden und eine Mitwirkung der Betroffenen garantiert wird. Ihr Realismus ist zweifelsohne geprägt von einer langen Kette der Enttäuschungen und gebrochenen Versprechen. Sie erhoffen sich durch direkte Verhandlung mit der Bundesregierung zumindest, daß mit der bisherigen Praxis des bestehenden Härtefonds, der nicht Härten mildert, sondern schafft, gebrochen wird. Demgegenüber schätzen SPD und Grüne die Kompromißbereitschaft der Bundesregierung für gering ein und wollen den öffentlichen Druck für ihre Gesetzesvorschläge nutzen. KH