Schwerer Rückschlag für die AIDS–Prävention

■ Interview zu dem Nürnberger Urteil gegen einen HIV–positiven Mann und den Konsequenzen / Urteil und Sex–Verbot „strafrechtlich nicht haltbar“ und auch Ergebnis „richtiger Sexualängste“ / Nach der Nürnberger Richterlogik könnte auch Autofahren verboten werden

Berlin (taz) - „Bestürzung und Empörung“ hat der Spruch des Nürnberger Landgerichts ausgelöst, das am Montag einen HIV–positiven 46jährigen Mann zu zwei Jahren Haft verurteilte, weil er in drei Fällen ungeschützten Geschlechtsverkehr hatte. Sieben Mitglieder der Bundestags–Enquetekommission zu AIDS (Schmidt, Conrad, Großmann, Bruns, Riehl, Becker, Rosenbrock) sprachen von einer gesellschaftspolitischen Lawine, die dieses Urteil lostreten könne, falls es vom Bundesgerichtshof bestätigt wird. Die Urteilsbegründung sei absurd und bedeute ein lebenslanges Sexverbot für Infizierte. Die taz sprach mit dem Rechtsexperten und Bundesanwalt Manfred Bruns. taz: Wie beurteilen Sie das Urteil von Nürnberg? Manfred Bruns: Es geht in diesem Fall um flüchtige Sexualkontakte unter Menschen, die sich nicht näher kennen. Das Gericht hat mit seinem Urteil die Vorsorge gegen Ansteckung einseitig dem Infizierten zugewiesen. Eine vernünftige Aids–Prävention muß aber davon ausgehen, daß der andere Teil in gleicher Weise verantwortlich ist, weil er sich auf nichts verlassen darf. Im Straßenverkehr wird auch nicht allein der Autofahrer zur Vorsicht gemahnt, sondern ebenso der Fußgänger. Jeder ist gleich verantwortlich. Es gibt aber dennoch die moralische Verpflichtung des Infizierten, seinen Partner oder seine Partnerin aufzuklären. Es gibt nicht nur die moralische, sondern eine rechtliche Verpflichtung. Aber das Nürnberger Gericht vertritt die weitergehende Auffassung, daß der Infizierte nicht einmal safer Sex machen darf, daß er auch für das allerkleinste Restrisiko verantwortlich ist. Das ist völlig unsinnig. Damit wird einem Infizierten, der sich subjektiv Jahre und Jahrzehnte völlig gesund fühlen kann, jeglicher Sex verboten. Es kann doch auch bei AIDS nur darum gehen, das Risiko auf ein vernünftiges Maß herabzumindern. Der Richter hat auch Schleimhaut–Kontakte und den Gebrauch von Kon domen ausgeschlossen, weil er meint, daß das nicht sicher genug ist. Nach dieser Logik könnte genauso gut das Autofahren verboten werden, weil es nicht 100prozentig sicher ist. Der Nürnberger Richter Kölbl hat auch vor einer „Kondomgesellschaft“ gewarnt. Das ist eine deutliche Absage an die bisherige Präventionsstrategie bei AIDS. Das Urteil ist ein schwerer Rückschlag für jede Prävention. Es ist aber auch strafrechtlich nicht zu halten. Der Beschuldigte kann nur bestraft werden, wenn ihm völlige Gleichgültigkeit nachzuweisen ist. Wenn er dagegen leichtsinnig ist und hofft, daß es gut geht, handelt er nur fahrlässig. Im Nürnberger Fall hat der Mann gewisse Vorsichtsmaßnahmen vorgenommen. Er hat zum Teil den coitus interruptus praktiziert und teilweise Kondome benutzt. Das deutet nicht auf völlige Gleichgültigkeit hin. Dem Angeklagten konnte nicht nachgewiesen werden, daß er jemanden angesteckt hat. Das konnte das Gericht nicht nachweisen, deshalb lautet das Urteil auf versuchte gefährliche Körperverletzung. Das Strafmaß fällt dabei aber völlig aus dem Rahmen, wenn man berücksichtigt, daß sich der Partner genauso unvorsichtig verhalten hat, und wenn man an die beschränkte Lebenserwartung des Angeklagten denkt, die der Richter hätte berücksichtigen müssen. Aber hier sollte offenbar ein Exempel statuiert werden. Man macht auch bei solchen Prozessen die Erfahrung, daß Projektionen eigener unverarbeiteter Sexualängste auch im Richterbereich eine Rolle spielen. Im vorliegenden Fall hat der behandelnde Arzt die Schweigepflicht gebrochen und das Gesundheitsamt über eine frische Gonorrhoeinfektion informiert, das diese Information an die Staatsanwaltschaft weitergab. Ärzte sind an die Schwei1gepflicht gebunden. Sie können aber einen Patienten melden, wenn er sich unverantwortlich verhält und wenn eine Gefahr für die Gesundheit von anderen besteht. Das darf aber nur das letzte Mittel sein. Interview: Manfred Kriener