I N T E R V I E W Polen ist ein Land der Dritten Welt geworden

■ Ein Interview mit Aleksander Paszynski, dem ehemaligen Mitarbeiter von Vizepremier Rakowski und Gründer der „Ökonomischen Gesellschaft“

taz: Das Regierungsprogramm zur „Zweiten Etappe der Wirtschaftsreform“ weist große Ähnlichkeit mit den Vorstellungen der Solidarnosc auf, wenn man von einigen politischen Forderungen absieht, wie der Beteiligung der Gesellschaft oder der Abschaffung der Nomenklatura. Doch jetzt hört man, einige Führer der Gewerkschaft hätten zum Boykott des Referendums aufgerufen? Aleksander Paszynski: Die Formulierungen der Stellungnahme sind nicht besonders präzis. Es gibt keinen wörtlichen Aufruf zum Boykott. Solidarnosc ist gewiß in einer sehr schwierigen Situation. Denn einerseits sind solchermaßen formulierte Fragen schlicht eine Manipulation der Regierung, andererseits aber ist der Standpunkt von Solidarnosc nicht so weit entfernt von dem der Regierung. Hat denn Solidarnosc jemals ein eigenes kohärentes wirtschaftspolitisches Programm besessen? Nein. Solidarnosc war eine Bewegung des Massenprotests. Sie vereinigte in ihren Reihen alle, die sich mit der herrschenden Ordnung nicht abfinden wollten. Wirtschaftspolitisch reicht das Spektrum von Sozialdemokraten wie Ryszard Bugaj bis zu entschiedenen Neokonservativen wie Prof. Kurowski . Da ist es logisch, daß Solidarnosc während ihrer legalen Existenz nicht in der Lage war, ein einheitliches Wirtschaftsprogramm zu entwickeln. Erst jetzt geht sie in eine Richtung, die man als „Anerkennung des Marktes“ beschreiben könnte. Darüberhinaus betont Solidarnosc angesichts des Dilemmas, in dem sie sich befindet, daß die Wirtschaftsreform unvollständig und ineffektiv bleiben muß, solange sie nicht von entsprechenden politischen Reformen begleitet wird. Wir stehen jetzt vor der paradoxen Situation, daß Solidarnosc die Reform zumindest stillschweigend hinnimmt, während die regimetreuen neuen Gewerkschaften sich ihr entgegenstellen? Solidarnosc befindet sich in einer Falle, weil sie immer behauptet hat, eine reine Gewerkschaft zu sein. Dadurch erlaubte sie es Jaruzelski, während des Bush–Besuches zu sagen, daß er Solidarnosc nicht legalisieren könne, weil sie als reine Gewerkschaft den Lebensstandard der Arbeiter verteidige und damit gegen die Reform sei. Bush, als alter Banker, hat das zunächst geschluckt, und es hat einer Menge Anstrengungen Walesas und seiner Berater bedurft, ihm klarzumachen, daß Solidarnosc eben nicht nur eine Gewerkschaft sei. Für mich ist sie das nie gewesen. So gesehen hat die Regierung recht, wenn sie sagt, das Kapitel Solidarnosc sei abgeschlossen. Denn wenn sie wiederersteht, dann nicht in der gleichen Gestalt wie zuvor, sondern aufgespalten in verschiedene Richtungen. Heute hat Soli darnosc mehr die Funktion eines politischen Symbols als eines programmatischen Faktors. Das geplante Gleichgewicht zwischen Warenangebot und Preisen wird zu drastischen Preiserhöhungen führen. Andererseits wurden Kompensationen versprochen. Wo bleibt da der Markt? Ich fürchte, die Regierung hat die Preiserhöhungen in den Sack „Wirtschaftsreform“ geworfen, um sagen zu können: Es ist das letzte Mal, weil wir jetzt eine gute Wirtschaft haben. Das hat sie ja schon einmal gemacht, 1982; aber damals hatte sie Panzer auf den Straßen. Den Effekt der Preiserhöhungen haben wir in den letzten fünf Jahren einfach aufgegessen, ohne daß sich etwas geändert hat. Wenn sich diesmal wieder nichts ändert, werden wir in drei Jahren wie sind. Ob man den Ankündigungen des Programms glaubt oder nicht, ist eine Frage des Glaubens. Tatsache ist, daß an dem Fünfjahresplan kein Komma geändert worden ist. Die Regierung hat bis heute noch nicht verstanden, daß es sich bei unserer Krise um eine Angebotskrise handelt. Sie hat durch Lohnerhöhungen immer nur die Nachfrageseite forciert - noch dazu meist in den unproduktivsten Sektoren. Die Auslandsverschuldung ist ein weiteres Problem. Polens Exportstruktur, heißt es oft, ähnelt der eines Dritte–Welt–Landes: Rohstoffe werden exportiert, Fertigprodukte importiert. Um konkurrenzfähig zu werden, muß Polen selbst verarbeiten. Dazu muß es jedoch westliche Technologie kaufen; auf Kredit. Gibt es einen Ausweg aus diesem Teufelskreis? Sicher ist das ein großes Problem. Wenn es sich öffnet, ist Polen andererseits aber auch attraktiv für ausländisches Kapital. Die Japaner, die auf den europäischen Markt drängen, wollen in Polen Fuß fassen. Für westeuropäische Industrielle ist Polen Brückenkopf für den immensen sowjetischen Markt. Wir haben hier hochqualifizierte Arbeitskräfte mit enorm niedrigen Löhnen. Anstatt Gastarbeiter nach Westeuropa zu schicken, könnten wir sie so auch hier im Lande beschäftigen. Ich denke, man ist sich bewußt darüber, daß Polen ein Land der Dritten Welt geworden ist. Was uns noch unterscheidet, ist die Qualifikation unserer Arbeitskräfte, die Tatsache, daß wir inmitten entwickelter Länder liegen und ein ungenutztes Wirtschaftspotential haben. Wir haben also Chancen, aber wir müssen sie nutzen. Wenn wir uns in unser Schneckenhaus zurückziehen, wird alles nur noch schlimmer. : Interview: Klaus Bachmann