„Wenn der Körper zerfällt, muß ich mich auf das Innere konzentrieren“

■ Peter Sieglar macht Filme über sich und seine Krankheit / Er fühlt sich wie eine zu Bruch gegangene Tasse, die nicht mehr repariert werden kann

Nach fünf Wochen Arbeit an einer filmischen Dokumentation seiner Krankheit ist Peter Sieglar müde und zerschlagen. Peter Sieglar ist 32 Jahre alt und hat AIDS. Seinen inneren Zustand beschreibt er mit dem Bild einer zu Bruch gegangenen Tasse und er weiß nicht, „ob ich die Teile wieder zusammenfügen kann“. Zusammen mit den Mitarbeitern der Nürnberger „Medienwerkstatt Franken“ hat er in den letzten Wochen Freunde besucht, Interviews geführt und vor allem über sich selber geredet. Die Videokamera war ständig dabei, das Thema immer das gleiche: seine Krankheit, AIDS. An die zehn Jahre wohnt der gelernte Kellner Peter Sieglar jetzt in San Francisco. Nach einem Urlaub beschloß er zu bleiben und Berlin zu verlassen. Vor zwei Jahren eröffnete ihm sein Hausarzt die schreckliche Diagnose, „Kaposis Sarcoma“, eine bösartige Tumorerkrankung der Blutgefäße, die Krankheit AIDS. Statistische Lebenserwartung, 18 Monate. Nach dem ersten Schock stellte sich Pe ter der Krankheit. Er ging auf das Angebot eines alten Berliner Freundes ein, seine Gefühle und seine Erfahrungen in einem Film zu dokumentieren. Bei einem vierwöchigen Aufenthalt in Deutschland entstand im letzten Jahr das Video „Noch leb ich ja - ein AIDS–Kranker erzählt“. Der Film fällt in die Zeit, in der erstmals in Deutschland die Dimension der Krankheit wahrgenommen wird. Als beispielhafter Aufklärungsfilm erhält die Dokumentation eine Auszeichnung des Bundesministerium für Gesundheit, im Oktober dieses Jahres einen silbernen Preis beim internationalen Filmfestival in Chicago. Die Idee entsteht, in San Francisco eine Fortsetzung zu drehen, der Schwerpunkt soll nach der Auseinandersetzung mit der Diagnose bei „living with AIDS“ liegen. Mit zugesagten Fördermitteln der Deutschen AIDS–Hilfe wird das Vorhaben umgesetzt. „Der Film war die größte Konfrontation mit der Krankheit“,sagt Peter, die letzten zwei Jahre erscheinen ihm so lang wie vierzig, zu vieles Nachdenken, zu viele Versu che, sich selbst zu finden. Und jetzt am Ende des zweiten Projekts fühlt er sich an den Schluß der Dreharbeiten zum ersten Film zurückversetzt. Die Krankheit hat sein Leben grundsätzlich verändert, „ich glaube, auf der einen Seite bin ich härter geworden, aber auf der anderen Seite habe ich auch mehr Verständnis, zumindest für die Krankheit, für die Schmerzen“. Die Auseinandersetzungen, die Diskussionen werfen neue Fragen auf, die Zukunft ist mit Angst besetzt. „Was mache ich, wenn ich kränker werde. Es wird unheimlich schwierig werden, nicht mehr gehen zu können, nur noch im Bett zu liegen und fernzusehen. Wenn der Körper zerfällt, muß ich mich auf mein Inneres konzentrieren, aber das ist leichter gesagt als getan“. Es wird ein ziemlich endgültiger Prozeß werden, sagt er, und schwierig, dann alles loszulassen. Beim „National march on Washington for lesbian and gay rights“ am 17. Oktober in der US–Hauptstadt Washington, der bisher größten Protestaktion der Schwulenbewegung mit weit über 500.000 Teilnehmern, ist Peter mitgelaufen, in den ersten Reihen gemeinsam mit mehr als tausend „people with AIDS“. Etliche der Kranken kamen im Rollstuhl. Zum ersten Mal habe er da versucht, sich vorzustellen, wie es ist, an den Rollstuhl gefesselt zu sein. „Noch leb ich ja“ ist in einer amerikanischen Fassung in der letzten Oktoberwoche in San Francisco während der Dreharbeiten für die Fortsetzung der Dokumentation uraufgeführt worden und bekam vom Publikum stehende Ovationen. In der anschließenden Diskussion erklärte Peter seine Motive: „Soweit es geht, wollte ich mich mit der Krankheit auseinandersetzen und meinen Freunden verständlich machen, was ich durchzumachen habe. Außerdem möchte ich den Leuten zeigen, wie man mit der Krankheit umgehen kann“. Solange es noch Hysterie und Angst vor AIDS gebe, „müssen wir, die Menschen mit AIDS, die anderen aufklären“. Wolfgang Gast Einer Teilauflage dieser Ausgabe liegt eine Beilage des SRID bei.