Arbeitslosigkeit bleibt und steigt

■ Das Gutachten des Sachverständigenrats gestern in Bonn vorgestellt / Die „Fünf Weisen“ machen trotz düsterer Aussichten in Zweckoptimismus / 70.000 Arbeitslose mehr prognostiziert und nur 1,5 Prozent Wachstum / Zierliche Kritik an der Bonner Politik

Von Georgia Tornow

Bonn (ap/dpa/taz) - Im Jahresdurchschnitt 70.000 zusätzliche Arbeitslose und ein gesamtwirtschaftliches Wachstum von 1,5 Prozent: Das ist die Prognose der „Fünf Weisen“ für das Jahr 1988. Damit weichen sie in ihrem Auftrags–Gutachten, das sie am Montag wie alljährlich feierlich beim Kanzler abgeliefert haben, deutlich von den Zielprojektionen der Bundesregierung ab. Ende Oktober ging das zuständige Ministerdoppel Bangemann/Stoltenberg noch davon aus, daß das Bruttosozialprodukt im kommenden Jahr real um 2,0 bis 2,5 Prozent steigen würde. Trotzdem verbreiten die Mitglieder des „Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung“ Zweckoptimismus. „Wir bleiben dabei: Die Aussichten, daß sich die deutsche Wirtschaft im sechsten Jahr auf einem, wenngleich flachen Expansionspfad bewegen wird, sind - trotz Börsenkrach und Dollarkursverfall - gut.“ Weder der Bundesrepublik noch der Weltwirtschaft insgesamt steht angeblich Schlimmes ins Haus. Eine Rezession findet nicht statt, behaupten die „Fünf Weisen“. Konkret überprüfbar werden die Glaubensbekenntnisse aus dem Jahresgutachten, das unter das Thema „Vorrang für die Wachstumspolitik“ gestellt wurde, bei den Aussagen zu Einzelbereichen der Wirtschaft. Hier gehen die Sachverständigen davon aus, daß sich die Preisentwicklung 1988 mit einer Jahresrate von 1,5 Prozent wieder leicht beschleunigt, nachdem sie in diesem Jahr bei voraussichtlich einem Prozent liegen wird. Der private Verbrauch soll auch 1988 eine wichtige Konjunkturstütze bleiben. Fortsetzung auf Seite 2 Kommentar auf Seite 4 Bei einer Steigerung der Nettoeinkommen aus unselbständiger Arbeit von vier Prozent errechnen die Sachverständigen unter Berücksichtigung der im Januar zu Buche schlagenden Steuerentlastung von etwa elf Milliarden DM eine Zunahme des verfügbaren Einkommens von voraussichtlich 4,5 Prozent. Kräftige Wachstumsimpulse dürften dem Gutachten zufolge vom Export ausgehen. Obwohl durch den jüngsten Kursverfall für viele Exporteure die Schmerzgrenze erreicht worden sei, rechnet das Gutachten mit einer Steigerung der Ausfuhren um 2,5 Prozent. Dabei unterstellen die Sachverständigen einen Dollarkurs von 1,70 DM - eine derzeit wahrhaft rosige Sicht. Das durch Bundesgesetz 1963 geschaffene Gremium Sachverständigenrat, das auf Vorschlag der Bundesregierung in fünfjährigem Turnus vom Bundespräsidenten berufen wird, ist eine offizielle Institution. Entsprechend zierlich fallen dann auch Kritiken an den Bonner Machern der Wirt schaftspolitik aus. Zu bemängeln hatten die „Weisen“ die nicht gelungene Eindämmung der Staatsausgaben und den unzureichenden Subventionsabbau. Die beschlossenen Neuregelungen in der Steuerpolitik sind nach Meinung des Sachverständigenrates nicht konsequent genug auf das Ziel ausgerichtet, das Wirtschaftswachstum zu kräftigen. In einem Minderheitenvotum schlägt der Hagener Professor Rüdiger Pohl sogar vor, die für 1990 geplante Steuerreform so bald wie möglich vorzunehmen. Für die Sachverständigengutachten immer wieder vehement geforderte Wachstumspolitik liefern die „Fünf Weisen“ allerdings keinerlei angemessene Handlungsvorschläge. Trotz der offensichtlichen Differenzen sind sie damit für die Regierungspolitik bequem vereinnahmbar. In seiner ersten Stellungnahme sieht sich Bundesminister Martin Bangemann (FDP) im Einvernehmen mit Bundesfinanzminister Gerhard Stoltenberg darin bestätigt, daß die Wirtschaft die Wachstumsschwäche überwunden habe.