Haiti: Die alten Kräfte machen mobil

■ Am Sonntag finden in Haiti Präsidentschaftswahlen statt / Im Land herrscht ein Klima von Angst und Terror: Zwei Präsidentschaftskandidaten wurden ermordet

Von Thomas Schmid

Berlin (taz) - Daß die Kundgebung vor dem zentralen Polizeigebäude der Hauptstadt stattfand, machte durchaus Sinn. Der Redner forderte gerade die Freilassung eines Gefangenen, als ein Kopfschuß ihn niederstreckte. Die Polizei jagte nach dem Mord die Zuhörer vom Platz. Den Fotografen wurden die Kameras abgenommen. Übereinstimmenden Augenzeugenberichten zufolge waren die zivil gekleideten Schützen aus dem Polizeigebäude gekommen. Am selben Tag, dem 13. Oktober 1987, wird eine Erklärung der Mitglieder der Nationalen Wahlkommission veröffentlicht, in der diese versprechen, daß sie auch auf die Gefahr hin, ihr Leben zu verlieren, für die Wahlen arbeiten werden und in der sie das Volk, um Hilfe bitten, das Unmögliche wahr zu machen. Das Unmögliche soll morgen stattfinden. Nach 29 Jahren Duvalier–Diktatur und anderthalb Jahren Duvalierismus ohne Duvalier soll am Sonntag im Karibikstaat Haiti der künftige Präsident gewählt werden. Sein Amt soll er am 7. Februar 1988, dem zweiten Jah restag von „Baby Docs“ Flucht, antreten. Als Jean–Claude Duvalier, der sich 1971 im zarten Alter von 19 Jahren zum lebenslänglichen Präsidenten wählen ließ, 15 Jahre später in Begleitung zahlreicher Hofschranzen eine Maschine der US– Luftwaffe bestieg, um ins Exil zu flüchten, tanzten die Haitianer auf den Straßen und Plätzen von Port– au–Prince bis in die Puppen. Nach dem Fest war „dechoukaj“ angesagt, was soviel wie „Entwurzelung“ bedeutet. Man dechoukierte so ziemlich alles: Die Bilder des Diktators wurden verbrannt, der größte Supermarkt der Hauptstadt geplündert, Dutzende von Tontons Macoutes, Mitglieder der Privatmiliz der Duvaliers, gelyncht. Doch die inzwischen wichtigste Bastion des Duvalierismus wurde nicht dechoukiert: die Armee. Nach dem schmählichen Abgang von „Baby Doc“ hatte sie sofort die Macht übernommen. In den provisorischen Regierungsrat CNG wurde zwar auch der Präsident der haitianischen Menschenrechtsliga, Gerard Gourde, als Justizminister kooptiert. Doch strich dieser schon nach einem Monat die Segel, als offenkundig wurde, daß ihm nur die Rolle eines Feigenblatts zugedacht war. Übrig blieb eine Riege von Ministern von Leuten, die ausnahmslos bereits dem Duvalier–Regime gedient hatten, angeführt von General Namphy, dessen Unterschrift sich unter einer Dokument findet, das vor einem Monat in Haiti auftauchte. „Ihr Wille wird respektiert werden, sollten wir auch unser Leben dafür opfern müssen, und ihr Sohn, Jean–Claude Duvalier, wird zum unbestrittenen Wahrer der duvalieristischen Revolution aufsteigen“, hatten 28 Offiziere im Januar 1971 an Franois Duvalier alias „Papa Doc“ geschrieben. Der General, der heute die Geschicke Haitis leitet, hat das versprochene Opfer noch nicht bringen müssen. Wer hingegen ungefragt geopfert wird, sind seine Gegner. Zum Beispiel der Mann, der - wie eingangs erwähnt - vor dem zentralen Polizeigebäude der Hauptstadt ermordet wurde: Yves Volel, Präsidentschaftskandidat der „Demokratischen Wählerplattform“, einer kleinen Partei, die sich in der politischen Mitte ansiedelt. Sechs Wochen vor ihm hatten vermutlich von Schergen der Diktatur aufgebrachte Bauern den sozialdemokratischen Kandi daten Louis Eugene Athis erschlagen. Als die Nationale Wahlkommission am 2. November zwölf von 35 Bewerbern um das höchste Amt im Staat die Kandidatur - wie von der Verfassung vorgeschrieben - verbot, weil sie zu Zeiten der Duvaliers hohe Ämter innehatten, kam die Reaktion schon am nächsten Tag: Im Büro der Kommission wurde eingebrochen und ein großer Teil der Wahlunterlagen zerstört. Seither sind viele Kommissionsmitglieder in den Untergrund abgetaucht. Ihre Dokumente verstecken sie in Kirchen. Daß die Täter einen Auftrag höherer Stellen erledigten, darf durchaus angenommen werden, hatte doch schon im Sommer die Regierung eigenmächtig die Wahlkommission des Amts enthoben, um ein eigenes Wahlgesetz durchzusetzen und sich so den Zugriff auf die Urnen zu sichern. Unter dem Druck von Massendemonstrationen und Streiks mußte Namphy das Dekret allerdings widerrufen. Täglich Schüsse in der Hauptstadt Offensichtlich versuchen nun die Duvalieristen und ihre Freunde in der Regierungs– und Militärspitze dasselbe Ziel mit bewährteren Methoden zu erreichen. In Port– au–Prince hört man wieder täglich und nächtlich Schüsse. Am Dienstag - fünf Tage vor der Wahl - marschierten etwa zwei Dutzend Männer schießend durch die Innenstadt, schlugen Passanten zusammen und warfen Fenster ein. Ein Jugendlicher wurde erschossen. Am Vortag hatten Bewaffnete unter Rufen wie „Lang leben die Streitkräfte“ einen offenen Großmarkt der Hauptstadt in Brand gesetzt und einen alten Schuhputzer zu Tode geprügelt. Clovis Desinor, der dem alten Duvalier über neun Jahre lang als Minister gedient hatte und in der Geschäftswelt der Hauptstadt wichtige Familien hinter sich weiß, hatte angekündigt, daß ein Bürgerkrieg ausbrechen werde, falls er bei den Wahlen als Kandidat nicht zugelassen werde. Die Wahlkommission hat ihm trotzdem die rote Karte gezeigt. Da am Sonntag wohl keiner der 23 Kandidaten eine Mehrheit erreichjen wird, ist ein zweiter Wahlgang am 20. Dezember so gut wie sicher. Bei einem einigermaßen korrekten Urnengang müßten dem Gründer der Christdemokratischen Partei, Sylvio Claude, allerdings gute Chancen eingeräumt werden. Claude war 1979 bei Parlamentswahlen gegen Madame Max Adolphe, die greise Oberbefehlshaberin der Tontons Macoutes, angetreten. Nachdem seine Kandidatur damals vom Duvalier–Regime für ungesetzlich erklärt wurde, wurde er von Tontons Macoutes festgenommen und in die berüchtigten Dessalines– Kasernen verschleppt. Zwei Monate lang wurde er schwer gefoltert und danach nach Kolumbien abgeschoben. Noch im selben Jahr kehrte er nach Haiti zurück, verbrachte dann allerdings die nächsten sechs Jahre vorwiegend in Gefängnissen. Neben Claude zählen Louis Dejoie, der 1957 manipulierte Wahlen gegen „Papa Doc“ verloren hatte, der Unternehmer Marc Bazin, der von den USA gesponsert wird, und Gerard Gorgue zu den Favoriten. Auf dem Land, wo der Analphabetismus zwischen 80 und 100 Prozent beträgt, werden die Leute aber ohnehin zuhause bleiben. Bei der Wahl der Mitglieder der Verfassunggebenden Versammlung im März betrug die Beteiligung gerade knapp zehn Prozent. Die Bürgermeisterwahlen, die am 15. November hätten stattfinden sollen, wurden kurzfristig abgesagt - mangels Kandidaten.