In Kronstadt herrscht weiter die Angst

■ Inzwischen sind die Spuren der Revolte in der siebenbürgischen Stadt weitgehend beseitigt, doch die Gerüchteküche brodelt: nach Aussagen von Arbeitern wird weiter verhaftet und sogar ein Sonderlager errichtet

Aus Kronstadt Roland Hofwiler

Für einen Augenblick vergißt man die barsche Bedienung und die Kälte im Saal, wenn man aus dem Restaurant des Kronstädter „Capitol“ zur gegenüberliegenden Straßenseite schielt. Denn vis–a– vis vom vornehmsten Hotel der zweitgrößten rumänischen Metropole bemühen sich zwei „Handwerker“ darum, die Eingangspforte eines guterhaltenen gotischen Bürgerhauses aufzupolieren: dem Parteihaus, das in auffallend gepflegtem Zustand zu bewundern ist. Nur am grünlich bemalten Sockelabsatz scheint die Zeit ihre Spuren hinterlassen zu haben. Jeder weiß, daß an dieser Stelle am 15. November einer der erbittertst geführten Straßenkämpfe der letzten Jahre zwischen hungrigen Arbeitern und der rumänischen „Sekuritate“, der Geheimpolizei, tobte. An dem ver schmierten Sockelabsatz ist noch zu lesen: „Nieder mit Ceausescu - gebt uns Essen“. Wie es zu den Ereignissen kam und welchen Verlauf die Hungerrevolte im Detail nahm, läßt sich leider am Ort des Geschehens noch immer nicht genau rekonstruieren. Wurde der Pförtner des Parteibüros tatsächlich in der wütenden Menge niedergetrampelt und ein Polizist erschossen? Demonstrierten nur einige tausend oder waren es Zehntausende? Gab es auf beiden Seiten Schwerverletzte oder gar Tote? Alles bleibt offen, denn die Gerüchteküche Kronstadts und die angeblichen Zeugenaussagen widersprechen sich und aus der Parteipresse ist auch nicht ansatzweise herauszulesen, was vorgefallen war. Wer darüber überhaupt spricht, kennt „neue“ Details: so habe es wenige Stunden nach den Unruhen in Petrscheni und Galati Soli daritätsstreiks gegeben. Auch dort waren Parolen wie „Nieder mit der kommunistischen Tyrannei“ zu hören, erzählt ein Arbeiter. Ein anderer behauptet, vor zwei Tagen habe der oberste Parteibonze Kronstadts Selbstmord verübt, weil Ceausescu ihn für die Ausschreitungen zur Rechenschaft ziehen wollte. Ein anderes Gerücht besagt, im Schilltal werde ein KZ–ähnliches Lager eingerichtet, in das die verhafteten Kumpel verfrachtet würden, die vorerst alle noch in Bukarester Gefängnissen seien und gefoltert würden. Gerüchte über Gerüchte, die nur eines zeigen: die Menschen trauen dem Ceausescu–Clan alle nur erdenklichen Vergeltungsmaßnahmen zu. Ihr Haß auf die Machtclique, die Rumänien zum Armenhaus Osteuropas verkommen ließ, ist grenzenlos. Noch heute werden Menschen in Kronstadt wegen angeblicher Teilnahme an der Revolte verhaftet. Wegen „Vandalismus“ würden sie bis zu fünf Jahren Haft verurteilt, erzählt man sich. Jetzt hole man nach, was am Tage der Demonstration noch nicht möglich war: als in der Traktorenfabrik „Steagul Rosu“, in der 6.000 Arbeiter beschäftigt sind, die Revolte anfing - weil die Arbeiter eine Extraschicht über das Wochenende fahren sollten, obwohl sie seit drei Monaten keinen Lohn mehr gesehen hatten - war die Polizei überfordert. Sie konnte den Plünderungen im Stadtzentrum, vor allem in sogenannten „Deligatesa“–Läden, keinen Einhalt gebieten und hatte alle Hände voll zu tun, die Demonstranten nach vier Stunden mit Hilfe von Tränengaseinsatzwagen auseinanderzutreiben. Massenverhaftungen waren da nicht drin. Jetzt hole sie dies nach, täglich. Äußerlich sieht man wenig davon. Außer zwei Wasserwerfern, die Tag und Nacht in der Torga und Postavarulusstraße postiert sind, außer drei Patrouillen der Polizei, die in den Abendstunden mit Maschinenpistolen bewaffnet die Straßen auf und ab gehen, deuten nur noch die Schilder vor manchen Läden - „Wegen Renovation geschlossen“ - darauf hin, daß etwas vorgefallen war. Eine Anekdote macht die Atmosphäre deutlich: Zu Reisebeginn nahm ich aus Jugoslawien mehrere Laibe Weißbrot mit. In Klausenburg setzte ich mich in eine Schenke. Alles auf der Speisekarte sei bedauerlicherweise ausgegangen, sagte der Kellner. So hole ich mir mein Weißbrot und ein Stück Käse hervor. Langsam leert sich der Saal und ein Arbeiter spuckt zu mir herüber, bevor er geht. Erst später klärt mich ein Bekannter auf: wer Weißbrot ißt, gehört zu den höheren Rängen der Polizei.