„Niemand kann halb aus dem Zug springen“

■ Heute sollen die Polen ihr Einverständnis mit Regierungsplänen bekunden, deren Konsequenzen nur in einer Hinsicht klar sind: die Preise steigen / Die Verlierer der Reform stehen schon heute fest / Die Partei will zwar die Reform, aber keinerlei Machtverlust

Aus Warschau Christian Semler

Sechs Jahre ist es her, daß von einer riesigen Plakatwand des Warschauer Konstitutionsplatzes Andrzej Wajdas „Mann aus Eisen“ die Bevölkerung zum Widerstand aufgefordert hatte. Heute wird von derselben Plakatwand herab in freundlichen, grün gerahmten Balkenlettern „Ja zum neuen Denken“ verkündet. Die Propaganda für die Teilnahme am Referendum zur Wirtschaftsreform ist ebenso allgegenwärtig, wie sie unbeachtet bleibt. Als Thema gibt es nur die Preise. Die Regale leeren sich rapide angesichts der drohenden Preiserhöhungen. Mieten, Lebensmittel– und Kohlepreise werden bis zu 150 Prozent steigen. Während auf allen Devisenplätzen der Dollar fällt, steigt er in Warschau ununterbrochen. So reagiert die „schwarze Börse“ auf die Ankündigung der zweiten Etappe der Wirtschaftsreform. Samstag letzter Woche hat die Regierung in Garwolin bei Warschau eine Vorabstimmung durchgeführt. 62 Prozent der Stimmberechtigten nahmen teil, davon 51 Prozent mit Ja. Sollte dies das nationale Ergebnis werden, so könnte es ein, daß sich die Regierung Messner verabschieden muß. Vielleicht betritt dann der ehemalige Vizepräsident und „Reformer“ Rakowski ein weiteres Mal die politische Bühne, was allerdings kaum jemanden außer seinen Bewunderern bei der deutschen Sozialdemokratie erfreuen würde. Das allgemeine Desinteresse am Referendum wie an der Wirtschaftsreform liegt nicht nur an den vagen Zusicherungen und halben Versprechungen, die die Regierungspolitik charakterisieren. Der polnischen Gesellschaft, sagt Jan Litynski von Solidarnosc, ist längst alles bekannt. Dabei ist die zweite Etappe alles andere als ein bloßes Manöver zur Täuschung des Internationalen Währungsfonds. Nach einer vorübergehenden Erholung der Wirtschaft 1982–84 sackten in den letzten zwei Jahren die Ergebnisse wieder ab. Bei einem Energie– und Materialverbrauch sank der Wirkungsgrad der Investitionen. Weder der Zahl noch der Qualität nach konnte die Produktion die Nachfrage befriedigen. Daß die Importe - nicht zuletzt wegen der Auslandsverschuldung - gedrosselt werden mußten, führte dazu, daß das Angebot an Waren noch knapper wurde und die Preise noch mehr stiegen. Die Inflation liegt gegenwärtig bei 25 Prozent. Die Regierung ist einfach gezwungen zu handeln. Der Kerngedanke der zweiten Reformetappe, der von den parteilosen Regierungsökonomen entwickelt worden ist, besteht darin, die staatlichen Betriebe zu verselbständigen, den Verwaltungsapparat der Zentrale abzuholzen, die Machtbefugnisse zu denzentralisieren, die Privatbetriebe zu ermutigen und so dem Markt zum Durchbruch zu verhelfen. Der bekannte Ökonom Ryszard Bugaj spricht von einer kleinen Hoffnung nach der großen Apokalypse des Dezember 1981. Für ihn ist positiv, daß die Regierung erstmals von der untrennbaren Verbindung ökonomischer und politischer Reformen ausgeht. Wie aber kann die Selbstbeschränkung der Zentrale und die Machtverlagerung auf die Betriebe sowie auf die loaklen Verwaltungen durchgesetzt werden, wenn es keine wirksame gesellschaftliche Kontrolle gibt? Schwerindustrie, Energiebe triebe und die Großchemie verbleiben unter der zentralen Direktion. Die mächtigen Lobbies dieser Großkonzerne sind die Bastionen der Nomenklatura und des dirigistischen Zentralismus. In dem erst kürzlich verabschiedeten Fünf–Jahres–Plan haben sie den Großteil der für Investitionen zur Verfügung stehenden Gelder auf langfristige Projekte unter ihrem Schutzschirm aufgeteilt. Damit bleibe, so Bugaj, den verarbeitenden Betrieben wenig Spielraum, sich durch Investitionen dem Markt anzupassen. Bugaj hält Preissteigerungen für unvermeidlich, aber er befürchtet ein rasantes Tempo der Preisentwicklung, weil in der nächsten Zeit genügend Waren zur Verfügung stehen werden, da die Löhne dann ebenfalls angehoben werden. Schon um Unruhen zuvorzukommen, ist die Preis–Lohn–Spirale das notwendige Ergebnis. Bugaj weiß, daß die Steuerlast der Betriebe gesenkt und daß mit dem System der Steuerprivilegien für einzelne Betriebe Schluß gemacht werden muß. Das geht aber nur schrittweise. Andererseits aber gelte für die Wirtschaftsrefom Leszek Kolakowskis geflügeltes Wort: „Man kann nicht halb aus dem Zug springen.“ Wie stark sind in der Partei die Verfechter einer konsequenten Wirtschaftsrefom? Die erste Antwort der polnischen Freunde lautet: eine witzlose Frage. Alle sprechen in der Partei von der Reform, alle unterstützen sie, aber niemand will den Preis entrichten - den Verzicht auf einen Teil der Macht zugunsten gesellschaftlicher Organisationen. Bugaj meint, die politische Führung trete zum Teil für die Reform ein, aber der ganze Apparat sei dagegen. Folgendes gefährliches Szenario könnte sich abzeichnen: wenn die Wirtschaftsreform stecken bleibt, werden nur die Belastungen zunehmen, aber die Erfolge ausbleiben. So könnten die Betonköpfe in der Partei, die schon jetzt gegen den „Kapitalismus“ auftreten, gestützt auf eine geschickte Propaganda, zum ersten Mal in der Geschichte Volkspolens Einfluß in der Bevölkerung gewinnen. In der Tat: die elend bezahlten Arbeiterinnen, etwa der Textilbetriebe von Lodz, die Lehrer mit ihren Hungerlöhnen, die Rentner - sie alle sind schon jetzt die sicheren Verlierer der zweiten Etappe der Reform. Kann man die ökonomischen Ziele der Reform unterstützen und gleichzeitig Druck ausüben, um soziale Rechte zu verteidigen und den demokratischen Aktionsraum zu erweitern? Jan Litynski sieht in der Kampagne zur Wiederzulassung von Solidarnosc auf Betriebsebene die Möglichkeit, über den Betrieb hinauszugehen und im Stadtviertel oder im Distrikt Programme der gesellschaftlichen Selbstverteidigung durchzusetzen. Aber er fügt hinzu: um ein klein wenig zu erreichen, bedarf es der äußersten Energie - und die ist verbraucht. Es gibt mittlerweile 30 betriebliche Komitees für die Wiederzulassung von Solidarnosc. Die meisten dieser Komitees betreiben ihre Arbeit mehr im Stil der symbolischen Aktionen. Sie wissen, daß für die Regierung das Thema gewerkschaftlicher Pluralismus weiterhin tabu bleibt. Einen anderen Weg hat die Gruppe linker Intellektueller und Arbeiter eingeschlagen, die vor einigen Wochen unter Berufung auf die von der Regierung versprochene Vereinigungsfreiheit die Sozialistische Partei Polens (PPS) aus der Taufe gehoben hat. Das Kind feierte gerade seinen 95. Geburtstag. Zu den Parteigründern gehören Jan Josef Lipski, Josefg Pinior aus Wroclaw sowie die Warschauer Arbeitergruppen „Wola“ und „Robotnik“. Obwohl sich die neue/alte PPS ausdrücklich auf den Boden des Grundgesetzes gestellt hat, wurden ihre bisherigen drei Versammlungen von der Polizei heimgesucht und aufgelöst. Es wird klar, daß die Ansätze zu einem Parteienpluralismus - bei Anerkennung der führenden Rolle der Kommunisten - nicht hingenommen werden. Bugaj und seine Freunde bemühen sich um die Lizensierung eines Klubs „Sozialismus und Demokratie“. Auch sie wollen mit ihrer Initiative die Regierung an ihren demokratischen Versprechungen messen. Sollte der Klub zugelassen werden, so muß das nicht unbedingt für die gesellschaftliche Harmlosigkeit der Gründer sprechen. Schließlich ist ein Ereignis, dessen 200. Jahrestag wir demnächst feiern werden, durch die Tätigkeit von Klubs entscheidend mitgestaltet worden.