Chile wartet auf den Ausgang einer Entführung

■ Die FPMR verschiebt die versprochene Freilassung des entführten Oberst Carreno um maximal zehn Tage / Die Lastwagen mit Waren für die Armenviertel wurden teilweise schon vor der Verteilung überfallen und geplündert

Aus Santiago Iris Stolz

Am 1. September war der Oberst des Heeres und zweite Chef der Rüstungsfirma Famae, Carlos Carreno, vor seiner Haustür gekidnappt worden - von der FPMR, der aus der Jugendorganisation der KP hervorgegangenen „Patriotischen Front“. Nach ein paar Wochen verhängte Staatsanwalt Torres eine Informationssperre - laut FPMR aufgrund der Erklärungen des Oberst, in denen er seine Waffenbrüder aufrief, ihre Loyalität gegenüber Pinochet infrage zu stellen. Nach 87 Tagen ist der Fall Carreno erneut in aller Munde, weil die Familie des Oberst mit Hilfe des Priesters Alfredo Soiza über die Freilassung verhandelte. Staatsanwalt Torres: „Weder das Heer, noch die Staatsanwaltschaft haben irgendwie eingegriffen.“ Die „Frente“ stellte zwei Bedingungen: erstens sollten in 13 Armenvierteln Santiagos Lebensmittel, Baumaterialien und Spiel zeug verteilt werden; zweitens sollten die Kommunikations–Medien eine Erklärung mit dem Titel „Die FPMR: Vier Jahre Kampf an der Seite des Volkes“ erhalten. Im Gegenzug werde der Oberst freigelassen. Die Erklärung wurde bereits am Mittwoch übergeben, die Verteilung der Waren begann am Donnerstag. In der Nacht auf Freitag gab die „Frente“ jedoch bekannt: Weil die Stadt von Sicherheitskräften überwacht werde, müsse die Freilassung um auf maximal zehn Tage verschoben werden. Daß die Freilassung kein Kinderspiel ist, vermuten in Chile viele: die Militärs hätten mittlerweile selbst ein Interesse am Tod Carrenos; und wenn seine Leiche aufgefunden würde: Wem glauben? Über 70.000 Dollar hatte die Familie des Oberst zusammenbekommen, und mit diesem Geld hatte sie eingekauft, was von der „Frente“ gefordert wurde. Mit Milch, Reis, Nudeln, Öl, Schu hen, Plastikbällen und Wellblech bepackte Lastwagen fuhren am Donnerstag morgen in die von der FPMR ausgesuchten Armenviertel. Während sie in den meisten Slums direkt auf die Kirche zusteuerten, wo dann eine geordnete Verteilung organisiert wurde, gingen in einigen viele Anwohner leer aus: zum Beispiel in La Victoria wurde der LKW bereits überfallen, als er in Sichtweite war. Jugendliche stürzten sich auf die Ladefläche und warfen die Ware unters Volk: wer nicht stark genug war, bekam nichts. Vielen Kindern standen die Tränen in den Augen. „Jetzt müssen wir warten, bis sie noch einen Oberst entführen“, sagte eine Frau. Die zweite Bedingung, die Übergabe einer Erklärung an die Medien, wurde am Mittwoch auf einer Pressekonferenz erfüllt. Wenn die Veröffentlichung „extremistischer Erklärungen“ in Chile auch verboten ist, so gaben viele Medien doch in groben Zügen den Inhalt des Kommuniques wieder. Das neunseitige Papier betont die Notwendigkeit des Volksaufstandes und erläutert die Position der „Frente“ gegenüber der aktuellen politischen Situation: „Leider überhören einige Parteiführer den Schrei des Volkes und spielen das Spiel Pinochets, indem sie zur Beteiligung am Plebiszit aufrufen, als sei dies der einzige Ausdruck der Opposition. So verleihen sie ihm Legitimität und machen sich zum Komplizen eines Betrugs am Volk.“ Im Kampf gegen die Diktatur müßten alle Formen angewendet werden, und die bewaffneten würden dabei eine entscheidende Rolle spielen. Im Spektrum der oppositionellen Parteien hat die FPMR allerdings kaum Freunde: das um die Christdemokratie gruppierte politische Zentrum meint, der bewaffnete Kampf nutze der Diktatur, weil er auf einem Terrain ablaufe, auf dem das Militär–Regime am wenigsten verletzbar sei. Aber auch die Kommunistische Partei, die der „Frente“ „mit Sympathie“ gegenübersteht, hat zunehmend Probleme mit ihr und ihrer „militaristischen Verirrung der Strategie der Volksrebellion“. Im September wurde bekannt, daß ein Teil der „Frente“ sich gegenüber der KP–Führung verselbständigt hatte - eben jener Teil, der für die Entführung des Oberst Carreno verantwortlich ist.