Demokratie auf türkisch

Wehklagende Frauen, Terrortote, Arbeiterdemonstrationen: Szenenfolgen aus den Werbesendungen der regierenden Mutterlandspartei im türkischen Fernsehen. Die schwarz–weißen Dokumentaraufnahmen sollen den türkischen Wählern, die am kommenden Sonntag an die Wahlurnen gehen, das Unheil aus der Zeit vor dem Militärputsch vor Augen führen. Die Verantwortlichen des Chaos sind auch schnell benannt: Die alte Politikergarde, ob der konservative Ex–Premier Süleyman Demirel, der Sozialdemokrat Bülent Ecevit, der islamisch–fundamentalistische Necmettin Erbakan oder der faschistische Ex– Oberst Türkes. Daß die Mutterlandspartei des Ministerpräsidenten Turgut Özal als einzige Partei positiv auf den Militärputsch Bezug nimmt, hat seinen Grund. Von den drei Parteien, die die Militärs zu den Nationalwahlen 1983 zuließen, errang die Mutterlandspartei mit 45 Prozent der Stimmen die absolute Mehrheit in der Nationalversammlung und stellt seither den Ministerpräsidenten, während General Kenan Evren den Posten des Staatspräsidenten innehat. In nerhalb kürzester Zeit lösten sich alle vom Militärregim geschaffenen Oppositionsparteien auf, allein die Mutterlandspartei - der die Militärs ursprünglich das größte Mißtrauen entgegenbrachten - stabilisierte sich, vor allem deshalb, weil sie als Regierungspartei Klientel sichern und Posten vergeben konnte. In die Zeit der Regierung Özal fallen die tiefgreifendsten Umstrukturierungen der türkischen Ökonomie. Özal vermochte es unter Ausnutzung der seit dem Putsch im freien Fall begriffenen Reallöhne und der Zerschlagung der Gewerkschaften, die traditionell auf den Binnenmarkt ausgerichtete türkische Ökonomie auf den Export umzupolen. Niemand leugnet die gewaltige Wirkung des Austeritätspaketes. Gestritten wird nur um die Wertung. Während die Oppositionsparteien im jetzigen Wahlkampf die Arbeitslosigkeit und Inflation herausstellen und die Opfer der neoliberalen Konterrevolution beklagen, appelliert Özal an den Nationalstolz seiner Bürger: „Die Türkei genießt in internationalen Finanzkreisen einen ausgezeichneten Ruf.“ Parallel zum wirtschaftspolitischen Wandel in den vergangenen Jahren übernahm das zivile Kabinett die Repressionsinstrumente, die das Militärregime geschaffen hatte. Zunehmend wurden dem Militär die Kompetenzen zur Führung dieser antidemokratischen Instrumente entzogen, aber nur, um von der zivilen Regierung in gleicher Weise eingesetzt zu werden. Mittlerweile hat Özal soviel Machtfülle aufzuweisen, daß er offen über die Einführung eines Präsidialsystems nachdenkt. Sehr zur Verärgerung Evrens, der jüngst auf einer Rede in Mugla voller Ernst orakelte, der Staatspräsident sei keine Vogelscheuche. Özal konnte es indes nicht verhindern, daß nach den Wahlen 1983 die von der Verfassung mit Politikverbot belegten Altpolitiker erneut in die politische Arena drängten und über Mittelsmänner und -frauen politische Parteien gründeten. Insbesondere der konservative Ex–Premier Demirel, unter dem Özal einst als Staatssekretär gedient hatte, griff den amtierenden Ministerpräsidenten als „Revolutionswächter des Militärregimes“ vehement an. Gefördert durch das politische Betätigungsverbot, erreichte Demirel 1986 den Höhepunkt seiner Popularität. Wesentlicher Grund für die vorzeitig durchgeführten Neuwahlen ist denn auch die im vergangenen September durchgeführte Volksabstimmung, bei der die Aufhebung des politischen Betätigungsverbotes zur Abstimmung anstand. Mit einer hauchdünnen Mehrheit erhielten die alten Politiker ihre politischen Grundrechte zurück. Noch vor Bekanntgabe des Wahlergebnisses kündigte Özal, der für ein „Nein“ mobilisiert hatte, im Fernsehen vorgezogene Neuwahlen an. Ein eilig von der Mutterlandspartei zusammengeflicktes Wahlgesetz, welches neue Sperrklauseln einführte und die Wahl der Kandidaten ausschließlich den Parteizentralen überließ, wurde in Teilen vom Verfassungsgericht für rechtswidrig erklärt. Das Gesetz - nach dem Gerichtsurteil kaum verändert - soll der Mutterlandspartei auch künftig die absolute Mehrheit in der Nationalversammlung sichern. Bereits mit 33 Prozent der Stimmen kann sie die Wahl gewinnen. Ömer Erzeren