Finden wir die Sprache wieder

■ Die Suche nach Lösungen für die RAF–Tragödie ist auch die Aufarbeitung der eigenen Geschichte

Es ist jetzt fast schon wieder vier Jahre her, seit Wolfgang Pohrt in verschiedenen Zeitungsartikeln für eine Amnestie eintrat. In dem Diskussionsband „Der blinde Fleck“, Verlag Neue Kritik, kann man sie nachlesen. Das Buch ist zu empfehlen, nicht nur weil auf diesem Niveau zu diesem Thema nicht sehr viel gesagt worden ist, sondern auch, um sich zu vergegenwärtigen, wie schnell die Zeit über solche Initiativen hinweggeht, wie leicht solche Chancen vertan werden können, wenn damit leichtfertig umgegangen wird. Wir wissen, was die RAF von Wolfgang Pohrts Amnestie–Vorschlag hielt: Sie proklamierte mit der französischen „action directe“ die neue Ära einer westeuropäischen Guerilla und feierte den Hungerstreik der Gefangenen aus der RAF im Winter 84/85 als „Sieg in der Einheit Guerilla, Widerstand, Gefangene“. Der behauptete „Durchbruch in der Politik der Metropolenguerilla“ brachte selbst die RAF–Sympathisanten aus der Fassung: - am 1.2.85 wurde der MTU–Manager Ernst Zimmermann ermordet, - am 8.8.85 der 20jährige US–Soldat Edward Pimenthal, - am Tag darauf eine amerikanische Hausfrau und ein weiterer US–Soldat bei einem Bombenanschlag, - am 9.7.86 der Siemens–Manager Karl–Heinz Beckurts, - am 10.10.86 der Diplomat Gerold von Braunmühl. Den Strafverfolgern fiel dazu dasselbe wie immer ein: mehr Geld, mehr Personal, noch mehr Kompetenzen. Ein besonderes Anliegen ist dabei der Kronzeuge. Der Generalbundesanwalt verspricht sich vom gekauften Zeugen neue Fahndungserfolge und Urteile, die weniger kritikanfällig sind als die, die auf dem Wege der freien Beweiswürdigung zusammengeschustert wurden. Es gibt Kräfte, die auf diese neuerliche Ausweitung der Grenzen des Rechtsstaats nicht warten wollen. Am 8.10.87 hat ein „internationales Konsortium von Privatunternehmern und Stiftungen gegen weltweiten Terror“ in einer großformatigen Anzeige des Zürcher Tagesanzeiger Belohnungen von bis zu 1,2 Millionen DM für die Informationen ausgesetzt, „die zur Ergreifung von Terroristen führen, die an Gewalttaten in den Jahren 1983 bis 1986 beteiligt waren“. In diesem Sommer waren schon in einer Briefaktion über 40 Leuten, die dieses Konsortium als RAF–Sympathisanten mit möglichen Kontakten zu den Illegalen einschätzt, entsprechende Angebote beziehungsweise Drohungen durch anonyme Boten in den Briefkasten gelegt worden. Das ist so oder so dramatisch, auch wenn diese Geschichte nicht unmittelbar zu Todesschwadronen nach lateinamerikanischem Muster führt. Noch ist nicht bekannt geworden, wie die Generalbundesanwaltschaft und das BKA auf dieses Konsortium reagieren, ob sie es als Bürgerinitiative wahrnehmen oder als was sonst. So grauenhaft wie die „Politik“ der RAF, so grauenhaft ist jede weitere Eskalation in diesem „Gewaltspiel“. Niemand hat dabei etwas zu gewinnen. Wolfgang Pohrt schrieb: „Wenn Sieger und Verlierer feststehen, hört der Kampf auf.“ Im Gegensatz zu den Praktiken in anderen Ländern sieht er die Aufgabe, eine Amnestie hierzulande zu erreichen als Aufgabe, ein mittleres Wunder zu vollbringen. Eine derjenigen, die es wissen wollen, ist Antje Vollmer. Dafür steht ihre Initiative, die von Christa Nickels und vielen anderen mitgetragen wird, und die sie in Hunderten von Gesprächen mit Leuten aus allen Bereichen dieser Gesellschaft vorbereitet hat. Alle, die es aus vielerlei Gründen legitim finden, dafür zu sorgen, daß es den RAF–Leuten leichter gemacht wird, ihre Waffen niederzulegen und diesen Verein aufzulösen, die es legitim finden, nach Wegen zu suchen, die es den Inhaftierten ermöglichen, eine Reihe von Jahren früher aus dem Gefängnis zu kommen, sollten die eigenen Reaktionen auf diese Initiative überprüfen. Heute geht es darum zu verhindern, daß diese Initiative wieder erstickt wird und diejenigen aus der RAF, die für sich und ihre Genossinnen und Genossen eine Lösung suchen, und die Gefangenen, für die es um sehr viele Jahre geht, wieder auf unbestimmte Zeit verdrängt werden. Für die Grünen, die Alternativen, die Linken ist dieser Versuch eine Chance, von der feindseligen Konfliktaustragung in den eigenen Reihen zu einer Form der Kooperation zu finden, in der die eigenen Ansprüche nicht auf der Strecke bleiben. Bei der Suche nach Lösungen für die RAF–Tragödie geht es immer auch um die Aufarbeitung. Was die Grünen mit der öffentlichen Fraktionssitzung zu diesem Thema wollten, ist in einem von Antje Vollmer verfaßten Thesenpapier festgehalten: 1. Aufhebung aller Sonderhaftbedingungen für RAF–Mitglieder; 2. Entlassung müder ehemaliger RAF– Mitglieder, die sich vom Konzept des „bewaffneten Kampfes“ getrennt haben zum frühestmöglichen Zeitpunkt (Halbstrafe bei Zeitstrafen, 15–Jahresentlassung bei Lebenslänglichen); 3. Ausschöpfung des Gnadenrechts; 4. Entlassung der Haftunfähigen; 5. Verzicht auf öffentliche Distanzierungserklärungen; 6. Dialogmöglichkeiten für alle RAF–Mitglieder untereinander und mit politischen Gesprächspartnern von außen (Walser–Initiative); 7. Angebote an die Illegalen, die bereit sind, sich zu stellen; 8. Überlegungen über die politischen Voraussetzungen einer Amnestieregelung. Keine Rede von „Amnestie für Ausstei ger“. Diese unmöglich beschränkte Parole stammt vielmehr von der Zeitschrift Tempo, mit der sich diejenigen auseinandersetzen mögen, die damit die Grüne Initiative denunzieren. Die Hamburger Zeitschrift Arbeiterkampf ist in ihrer erstaunlichen Uninformiertheit und kaum noch steigerungsfähigen Gehässigkeit ein Beispiel dafür von vielen. Und obwohl es nur richtig ist, diesen Ansatz einer „Amnestie für Aussteiger“ zu kritisieren, sollte nicht verkannt werden, daß sich Tempo mit ihrer Umfrage zur Amnestie auch verdient gemacht hat. Wer in der Lage ist, zur Kenntnis zu nehmen, wer sich da alles und wie öffentlich zur Amnestiefrage äußert, kann sich auch mit der Vorstellung anfreunden, daß die Grünen mit ihrem politischen Vorstoß auf etwas durchaus Realisierbares zielen. Die Initiative ist nicht im luftleeren Raum entstanden, in sie gingen bestimmte Voraussetzungen ein, es wurden auch Fehler gemacht. Aber im großen und ganzen ist es ein Lösungskonzept, schon weil es ohne Zeitdruck der öffentlichen Diskussion, und damit auch der Korrektur, freigegeben wurde. Es gab auch Kritiken und Verbesserungsvorschläge, die der Offenheit dieses Entwurfs angemessen waren. Wie aber erklären sich die offen provokatorischen und blindwütigen Reaktionen? Eine Woche nach dieser Fraktionssitzung mit den bekannten Echos wurde Antje Vollmer zum Beispiel auf einer Demo gegen Neonazis in Bielefeld von einer Meute autonomer Hohlblöcke mit „Ratte! Ratte! Ratte!“–Rufen begrüßt. Was sich bei dieser Gruppe Antifaschisten so unverhüllt artikulierte, diese Vernichtungsreflexe, verweisen auf das Pro blem einer blinden Destruktivität, auf selbstzerstörerische Tendenzen, die in der Geschichte der Linken in Deutschland schon immer Garanten ihres Scheiterns waren. Den Autonomen, die in diesen schwachen Mad–Max–Kostümen durch die Straßen hoppeln, kann man zugute halten, daß sie diese Brutalisierung nicht selbst geschaffen haben. Sie haben nur eine Tradition übernommen, die so jung ist, wie der Zerfall der APO und so alt wie die deutsche Linke: Damals waren große Teile der antiautoritären Protestbewegung mit der Gründung der K–Gruppen und der RAF da angelangt, wo ihre/unsere Väter und Mütter aufgehört hatten, ihre Menschlichkeit zu behaupten: Bei der blinden Einordnung in Kollektive, die ihre Mitglieder als selbstbestimmte Wesen auslöschen und sie zu bloßem Material in irgendwelchen Schlachten funktionalisieren. Die Behandlung Anderer als auszulöschendes Ungeziefer, als Ratte, als amorphe Masse, in die man sich nicht hineinveretzen muß, weil es sowieso nur Spießbürger sind, das paßt dazu. Antje Vollmer und diejenigen, die nach einer menschlichen Lösung dieser Terrorismus–Geschichte suchen, haben auch Haßreaktionen auf sich gezogen und locker gemacht, weil sie für Versöhnung sind, weil sie für die Versöhnung zwischen einer bestimmten Gruppe von Frauen und Männern und diesem Staat beziehungsweise dieser Gesellschaft plädieren. Das muß man sich mal vorstellen und das muß man auch mal festhalten; und ich schreibe diesen Beitrag vor allem auch, damit diese Auseinandersetzung nicht von einem weiteren Schlag– Abtausch zwischen „Fundis“ und „Realos“ verschüttet wird. Um was es bei diesen gespenstischen Schlachten ohne Ende geht, ist kaum rauszukriegen, wenn man sie weiterlaufen läßt. Also die unerhörte Versöhnung: Daß darunter nichts wirklich geht, haben auch Rechtsanwalt Heinrich Hannover und Ilse Schwipper kürzlich in der Talk–Show „Drei nach Neun“ erfahren. Beide haben sich in einer Diskussion des Amnestie– Vorschlags auf Gerechtigkeit beziehungsweise Recht statt Gnade versteift und die Wiederaufnahme aller Verfahren gegen RAF–Mitglieder gefordert, weil es unfaire Prozesse waren. Was damit zu gewinnen wäre, hat ihnen der Mainzer CDU–Bundestagsabgeordnete Gerster, innenpolitischer Sprecher seiner Fraktion, gezeigt: Er hat gar nicht bestritten, daß die Haftbedingungen unmenschlich und die Prozesse nicht sonderlich fair geführt worden sind. Er hat auf eine schlichte Tatsache verwiesen, sich heftig dagegen ausgesprochen, daß immer nur von den Leiden der Terroristen die Rede ist und niemand ein Wort über die Opfer verliert. Das kam auch bei denen gut an, die offene Sympathie für die Positionen von Heinrich Hannover und Ilse Schwipper zeigten. Viel zu viele Linke haben hier einen „blinden Fleck“. Und das ist es doch: Selbst wenn jede/r einzelne Verurteilte aufgrund falscher Aussagen und falschinterpretierter Indizien verurteilt worden wäre - es kann doch nicht sein, daß sich diese Geschichte so auflöst, daß wir alle in neu aufgenommenen Prozessen mangels Beweises freigesprochen werden und nach Hause gehen. Die von RAF–Mitgliedern getöteten Menschen sind doch keine falschen Toten wie im Kino, diese ermordeten und verletzten Menschen sind wirklich tot und verletzt. Sie haben wirklich lebende Angehörige und Freunde, die nicht alle so sind, daß sie den Tätern vergeben können, wie es von der Familie von Braunmühl oder Frau Schleyer angeboten ist. Auch die von der RAF verbreiteten Ängste in diesem Staat und dieser Gesellschaft, das ist doch nicht nur hinterlistiges Werk von Counter Insurgency und Psychological Warfare. Obwohl es auch beides gibt, man darf doch darüber die realen Wirkungen der RAF–Aktivitäten nicht verkennen. Die Haftbedingungen waren und sind unmenschlich, die Prozesse waren und sind nicht fair, das ist die eine Seite. Die andere: Wir waren es, die in den Untergrund gegangen sind, wir haben uns bewaffnet; die Angriffe der RAF, bei denen es Tote und Verletzte gab, sind von allen zu verantworten, die in der RAF organisiert waren und sind. Das ist eine Frage der Moral. Unabhängig davon kann jeder einzelne Angeklagte für einen Freispruch kämpfen, wenn er selbst kein Tötungsdelikt begangen hat, das ist nicht das Problem, worum es in dieser Amnestiedebatte geht. Innerhalb des Staats und innerhalb der Gesellschaft haben Aktionen der RAF zu Polarisierungen geführt, die so weit gehen und so tief sitzen, daß man blind sein muß, wenn man nicht sieht, daß eine einseitige Lösung keine sein kann. Auch wir als ehemalige RAF–Mitglieder haben nichts zu fordern. Wir können Vorschläge machen und von unseren Erfahrungen berichten. Wenn es überhaupt möglich wäre - denkbar ist es ja -, eine Form der Amnestie zu realisieren, die dem nahe käme, was sich eine Jutta Ditfurth mit ihrer provokatorischen Erklärung einfallen ließ, hätten wir sehr schnell Formen von Lynchjustiz, wie sie uns allen aus den lateinamerikanischen Ländern bekannt sind. Wem schon eine gewisse Mäßigung aufgrund fehlenden Anstands fremd ist, sollte wenigstens aus Gründen politischer Vernunft darauf verzichten, „die Amnestieforderung endlich zum politischen Konflikt zu machen“, wie sich das Jutta Ditfurth vorstellt. Vor lauter berechtigter Kritik an der bornierten Distanzierungserklärung der Bundestagsfraktion sollte das nicht verwischt werden: Vielleicht kann man es besser formulieren, aber in der Organisation und Durchführung einer Amnestie für alle - wenn sie denn möglich sein sollte, und sie bleibt natürlich in diesem Land solang unmöglich, solange die Illegalen nicht das Ende ihres bewaffneten Kampfes erklären - muß es um Versöhnung gehen, um eine für alle Seiten glaubwürdige Verständigung darüber, daß ab sofort bestimmte Formen der Auseinandersetzung nicht mehr praktiziert werden. Glaubwürdig kann diese Verständigung nicht sein, wenn jede Seite darauf beharrt, keine Fehler gemacht zu haben. Ich denke, daß es kein Zufall war, daß es gerade Antje Vollmer, Christa Nickels und andere waren, die einem Versuch auf die Beine halfen, der Erfolg haben kann. Sie verstehen es, sich in ihrer politischen Arbeit auf die ganze Gesellschaft zu beziehen und gerade nicht gestützt auf eine bestimmte Gruppe oder eine imaginäre Klasse an sich gegen den Rest der Welt siegen zu wollen. Daß Antje Vollmer so viel Haß ausgerechnet mit dieser Versöhnungsinitiative auf sich gezogen hat, ist wohl damit zu erklären, daß sie mit bestimmten Elementen linker Theorietradition bricht, die zweifellos auch in der autoritären Charakterstruktur derjenigen ankert, die so maßlos getroffen aufgeschrieen haben. Da liegt das Problem von Jutta Ditfurth und anderen Fundis, daß sie vielleicht ihre dogmatisch–marxistische Kinderstube in der 68er–Bewegung verdrängt haben, aber diesen Kern marxistischer Theorie dadurch nicht loswerden konnten: die Unterwerfung der Gesamtgesellschaft unter einen einheitlichen Willen. Kriegsspiele. Es gibt im übrigen auch einen Beitrag aus dem Lager der Realos, der zweifellos genauso makaber ist, wie das, was sich Jutta Ditfurth geleistet hat. Genauso kurzsichtig, wie die Verteidiger von Jutta Ditfurths Provokation, sind diejenigen, die Cohn–Bendits Verhandlungen mit dem Verfassungsschutz und die Veröffentlichung seines Interviews mit einem Herrn Benz als sinnvollen Beitrag zur Lösung dieser Terrorismus–Geschichte ansehen. Nicht nur weil damit einmal mehr das verblendete Weltbild der RAF–Anhänger wieder stimmt, die in der Amnestie–Initiative der Grünen sowieso nur ein Manöver einer „Staatsschutzlinken“ zur Liquidierung revolutionärer Politik sehen können. So wenig wie sich Jutta Ditfurth offenbar mit der Bundestagsfraktion der eigenen Partei verständigen konnte, bevor sie diesen Stuß vom Stapel ließ, sowenig tat es „Realo“ Cohn–Bendit mit seinem Reklame–Coup für den Pflasterstrand. Was ich an dieser Initiative zu kritisieren hatte: Christa Nickels und Antje Vollmer sollten ihre Initiativen mit und für alle anderen Gefangenen deutlicher bekanntmachen, damit jede/r kapieren kann, daß das eine das andere nicht ausschließt, sondern im Gegenteil die Situation für alle öffnet. Empfehlenswert hierzu zum Beispiel Hartmut Weber: „Lebenslang - wie lang? Argumente zur Abschaffung der lebenslangen Freiheitsstrafe“. Die Versöhnungsinitiative will nicht die Aussöhnung mit den schlechten Verhältnissen und die Anpassung an diese, sondern sie gerade dadurch überwinden helfen, daß durch die Beendigung dieser RAF–Tragödie die Lernfähigkeit der Gesellschaft erhöht wird. Und wenn wieder Schüsse fallen sollten, diesen angefangenen politischen Dialog gilt es durchzuhalten. Danach haben sich diejenigen zu richten, denen es so unsagbar schwer fällt, ihre anachronistischen Schützengräben zu verlassen, und nicht umgekehrt, nicht länger umgekehrt. Finden wir die Sprache wieder.