Verrechnet

■ Die polnische Führung lief mit dem Referendum auf

Sehr zum Unglück Wojciech Jaruzelskis und der gestrigen Überschriftentexterin der taz kann sich die polnische Regierung keineswegs im Erfolg des Referendums sonnen. Was zum Teufel hat die polnischen Machthaber veranlaßt, sich auf das im realen Sozialismus bislang einmalige Unternehmen einer Volksabstimmung einzulassen, bei der die Stimmen so gezählt worden sind, wie sie in die (rot–weiß markierten) Urnen fielen? Einige Warschauer Oppositionelle vermuten, die Regierung habe von vornherein die Abstimmungsniederlage einkalkuliert, um den westlichen Gläubigern zu demonstrieren, sie sei zwar wild entschlossen, aber die Bevölkerung lasse sie leider nicht. Mir scheint eher, daß die politische Führung sich mit dem Referendum wirklich Rückendeckung verschaffen wollte - nicht zuletzt gegenüber den mächtigen Lobbies in den zentralen Apparaten, die Markt und Zentralisierung bekämpfen. Die politische Führung wollte die Unterstützung, ohne den Mindestpreis zu zahlen: effektive demokratische und gewerkschaftliche Rechte. Walesa hat jetzt - nicht zum ersten Mal - Jaruzelski die Hand hingestreckt. Er meint es ehrlich, denn zur Wirtschaftsreform gibt es keine Alternative. Aber die Reform kann nur erfolgreich sein, wenn die Arbeiter über ihren Kurs mitbestimmen und ihre Resultate kontrollieren können. Entweder die Regierung macht einen Schritt auf die Bevölkerung zu, erläßt das versprochene Vereinsgesetz, handhabt es großzügig und nimmt Gespräche über den gewerkschaftlichen Pluralismus auf Betriebsebene auf, oder der real–sozialistische Sumpf wird für die Nachwelt eine weitere Reformleiche konservieren. Christian Semler