I N T E R V I E W Ein Klima der Einschüchterung

■ Dieter Lattmann, ehemaliger Bundestagsabgeordneter der SPD und Gründungsvorsitzender des Schriftstellerverbandes, warnt vor dem Paragraphen 130a

taz: Herr Lattmann, als die sozialliberale Koalition 1976 einen Paragraphen 130a eingeführt hat, gehörten Sie zu den wenigen Kritikern innerhalb der SPD. Jetzt gibt es eine christlich–liberale Neuauflage des 130a. Was kritisieren Sie an einem solchen Paragraphen? Lattmann: Ich glaube generell nicht daran, daß der Zustand der Demokratie durch die Verschärfung des Strafrechts verbessert werden kann. Ich halte es für ein in zyklischen Prozessen immer wieder auftauchendes Verlangen der konservativen und neonationalen Kräfte, im Zuge der öffentlichen Gewaltdebatte Strafrechtsverschärfungen durchsetzen, die in Wirklichkeit der Disziplinierung der Bürger und kritischer Gruppen dienen. Die SPD hat den 1976 von ihr eingeführten Paragraphen 130a 1981 wieder zurückgenommen. War diese Rücknahme wirklich Einsicht in Gefahren? Bei der Mehrheit der SPD–Fraktion schätze ich es nach wie vor so ein, daß sie den Paragraphen aus praktischen Erwägungen wieder gestrichen hat, weil die juristischen Spezialisten gesagt haben: Er funktioniert nicht. Für eine kritische Minderheit innerhalb der SPD war die Rücknahme jedoch die Ausmerzung eines Gesetzes, von dem man im Rückblick sagte, man hätte ihm nicht zustimmen dürfen. Jetzt stehen wir morgen erstmals vor einer gerichtlichen Anwendung des neuen Paragraphen 130a. Gibt es für Sie da eine Entwicklung? Es gibt eine weitergehende Tendenz zur Verschärfung. Hintergrund ist meiner Einschätzung nach, daß führende konservative Politiker glauben, daß entscheidende Prozesse innerhalb der Gesellschaft in Zukunft schwerer steuerbar werden. Deshalb brauchen sie nach ihrem Verständnis einen schärferen Gesetzesapparat. Das gelingt ihnen natürlich jetzt besser als damals, als sie in der Opposition nur moralischen Druck ausüben konnten. Ich fürchte, daß damit das Klima der Einschüchterung und des Opportunismus zunimmt und damit jene Selbstzensur im Dienste staatsautoritärer Obrigkeit anwächst, die bei uns Tradition besitzt und nur allzuoft Zivilcourage verdrängt. Ist es für Sie überhaupt denkbar, daß ein öffentlicher Diskurs, der ganz stark über Zeitungen und andere Publikationen geführt wird, durch einen Strafrechtsparagraphen mit klarem politischem Charakter reglementiert wird? Im Grundsatz: nein. Daß es Situationen geben kann, wo man das am einzelnen Fall neu überlegen muß, weiß ich auch. Aber es geht um eine Tradition politischer Justiz, und da sage ich eindeutig: Eine freigewählte Gesellschaft muß selbst Texte derjenigen Gruppen publizieren und diskutieren können, die das System stürzen wollen. Die Publikation und die kritische Auseinandersetzung mit solchen Texten bedeutet nicht selber die Absicht, das System zu verändern - und schon gar nicht mit Gewalt. Was hier verboten werden soll, ist die kritische Auseinandersetzung. Und das wäre eine Beendigung der Meinungsfreiheit, die wir brauchen, weil damit in Wahrheit die geistige Auseinandersetzung mit Terror und mit Gewalttendenzen, die angeblich von den Konservativen immer gefordert wird, unter Verbot steht. Die taz steht morgen als erste Zeitung wegen Verstoßes gegen den neuen Paragraphen 130a vor Gericht. Die übrigen Medien scheinen bisher von diesem neuen Gesetz noch gar nicht Notiz genommen zu haben. Ich rate allen, sich noch einmal das Interview vorzunehmen, das Carl von Ossietzky, das er 1931, am Tag seiner Verurteilung, dem Berliner Acht– Uhr–Blatt gab. Als angeblicher Landesverräter hat Ossietzky damals gesagt: „Noch leben wir aber in der demokratischen Republik, auf deren Grundsätze ich schwöre und die ich vom Tage ihrer Geburt an verteidigt habe. Noch leben wir im Zustand verbürgter Meinungsfreiheit (...), deshalb werde ich weiter dafür einstehen, daß der Geist der deutschen Republik nicht durch eine mißverstandene Staatsräson verfälscht wird.“ Ich glaube, daß die Auseinandersetzung um die Grundsätze der Demokratie bei der Strafrechtsdiskussion an einen Punkt kommt, wo wir ohne Überdramatisierung allen Anlaß haben, uns dieses Ossietzky–Zitats zu erinnern. Interview: Vera Gaserow