„Der Schrumpfungsprozeß ist irreversibel“

■ Interview mit Dr. Michael Krummacher, Sozialwissenschaftler am Weiterbildungszentrum der Ruhruniversität Bochum über die Krise im Ruhrgebiet / „Der Wettlauf mit den südlichen Industrieregionen um High–Tech ist längst verloren“ / „Aktive Schrumpfungspolitik muß an die Stelle irrealer Wachstumskonzepte treten“

Am 6.12.87 findet in Oberhausen die „Ruhrgebietskonferenz“ statt. Unterschiedliche Initiativen von Gewerkschaftern bis hin zu kirchlichen Verbänden sind beteiligt. Motto der Konferenz: „Das Revier muß leben“. Die taz sprach aus diesem Anlaß mit Dr. Michael Krummacher. Mit mehreren KollegInnen (Marianne Wiesmann, Thomas Rommelspacher, Friedhelm Schrooten und Hans Wupper) hat er Studien zur Krise im Ruhrgebiet erstellt. Bekanntgeworden ist Michael Krummacher durch eine im Germinal–Verlag erschienene Studie über Bochum (Bochum - Umbruch einer Stadt) taz: Herr Krummacher, wieso gibt es keine Krisen– oder Umbauprogramme für das Ruhrgebiet? Krummacher: Weil mit jedem denkbaren Programm der Schrumpfungsprozeß des Ruhrgebiets nur modifiziert würde. Ich meine, daß man diesen Prozeß nicht durch Einzelprogramme aufhalten, sondern durch eine aktive Schrumpfungspolitik begleiten muß. Sie halten den Schrumpfungsprozeß für irreversibel? Ja, weil alle in Frage kommenden Ersatzarbeitsplätze nicht ausreichen, die Massenarbeitslosigkeit zu beseitigen. Den Wettlauf mit den süddeutschen Industrieregionen um die High–Tech–Ansiedlung hat das Ruhrgebiet schon längst verloren. Ersatzarbeitsplätze im Umweltschutz etc. verändern nichts am Schrumpfungsprozeß. Hier gibt es zwar in vielen Bereichen Nachholbedarf, daraus entsteht jedoch noch lange keine längerfristig exportfähige Produktion. Das eigentlich Dramatische sind die Geschwindigkeit und die sozialen Begleiterscheinungen dieses Prozesses. Denn daß Ballungsräume schrumpfen, hat es in der Geschichte immer wieder gegeben. Wie beurteilen Sie in diesem Zusammenhang den Streit zwischen CDU und SPD hier im Ruhrgebiet? Ich meine, daß fast alle politischen Kräfte hier denken, sie könnten das Ruhrgebiet wieder in den Status einer Wirtschaftswachstumsregion zurückversetzen. Ich halte diese Vorstellungen für irreal und auch nicht unbedingt für wünschenswert. Das Ruhrgebiet und seine Bevölkerung sind seit 150 Jahren vom Kapital vernutzt worden. Eine chaotische Siedlungsstruktur, Bergschäden, abgewrackte Industrien und verseuchte Industriebrachen sind die Folge. Ein aktueller Umbau, zum Beispiel zur High–Tech–Region mit entsprechendem Kapitalverwertungsdruck, würde voraussichtlich keine Rücksicht auf eine Sanierung der überkommenen Strukturen nehmen. Es würde vielmehr zu noch mehr Zersiedelung, noch mehr Straßen, zusätzlicher Umweltbelastung bei noch mehr Spekulationsdruck führen, ohne Vollbeschäftigung zu erreichen. Stadt– und Regionalpolitik der ganzen Nachkriegszeit haben sich vor allem der Aufgabe gewidmet, Wachstumsprozesse zu steuern und deren Folgen abzufedern. Jetzt muß gefragt werden, wie in dieser Region, in der der Wachstumsprozeß aufgrund weltweiter und bundesweiter Entwicklungen abgebrochen ist, die sozialen Folgen abgefedert werden können und mit welchem Ziel Stadt– und Regionalpolitik zukünftig betrieben werden soll. Das Kapital wandert ab und läßt eine ausgepowerte Region und ausgepowerte Menschen zurück. Es muß also gefragt werden, wie unter Einsatz der menschlichen Ressourcen und administrativen und finanziellen Steuerungspotentiale dieser Prozeß einem Ergebnis zugeführt werden kann, das mehr Lebensqualität heißt. Das Ziel einer aktiven Schrumpfungspolitik muß sein, krasse Marginalisierungsprozesse zu verhindern. Da muß auch der Staat als Ressource genutzt werden. Über Selbsthilfepotentiale allein wird der Verarmungsprozeß nicht wirksam aufgehalten. Wie stellen Sie sich eine solche aktive Schrumpfungspolitik vor? Ich komme immer mehr davon weg, in Ein–Punkt–Lösungen zu denken. Arbeitszeitverkürzung bleibt nach wie vor richtig, ebenso die Forderung nach staatlich gestützten Beschäftigungsprogrammen. Diese Ersatzarbeitsplätze müssen gedacht werden im baulich–räumlichen Bereich, im Umwelt– und Energiebereich. Sie werden aber nicht ausreichen, die Massenarbeitslosigkeit zu beseitigen. Außerdem wird eine originäre Sozialpolitik benötigt. Die Kontroverse zwischen dem Vollbeschäftigungsdenken der Gewerkschafter und dem Sozialarbeiterdenken der Grünen halte ich für unfruchtbar. Ich denke an ein Strategiebündel: Einerseits Arbeitszeitverkürzung und Produktkonversion für die Noch–Beschäftigten und andererseits materielle Grundsicherung und aktive Kulturpolitik für die Marginalisierten. Für sie sind materielle Hilfen notwendig, andererseits dürfen sie nicht zum Objekt sozialarbeiterischer Fürsorge degradiert werden. Wie kommt man aber weg von der Ideologie, daß nur der in der Bundesrepublik eine Existenzberechtigung hat, der über einen 40–Stunden–Arbeitsplatz verfügt? Die einseitige Orientierung am Lohnarbeitsverhältnis bricht ja sowieso auf. Nur nicht immer so, wie wir uns das wünschen. Hier im Weiterbildungsbereich und in den Bereichen Sozialarbeit/Sozialpädagogik kann davon manch einer ein Lied singen. Marx hat einmal von der „moralischen Degradation“ der Betroffenen gesprochen. Für mich bleibt es ein notwendiger Versuch, neben einer materiellen Sicherung der Lebensbedürfnisse die Marginalisierten politisch–ideologisch zu stabilisieren. Sie müssen selbstbehauptungs– und konfliktfähig werden. Hierzu ist wesentlich der Aufbau armengerechter Infrastrukturen. Wir haben hier im Norden der Ruhrgebietsstädte, aber auch in den Neubausiedlungen, sich herausbildende Gettostrukturen von Armut, Arbeitslosigkeit und Verelendung. Gleichzeitig läuft auf allen Ebenen der Kommunen eine Politik, die genau dort spart, wo sie mehr tun müßte. In den Ruhrgebietsrathäusern müßte also umgedacht werden? In der Zeit voller Gemeindekassen konnte man sich den Spagat zwischen unternehmensorientierter Wirtschaftsförderung, mittelstandsorientierter Wohn–, Freizeit–, Kulturpolitik und dem Ausbau sozialer Infrastruktur, sozialer Bestandssicherung in den Arme–Leute–Vierteln leisten. Angesichts leerer Kassen heute muß eine politische Entscheidung getroffen werden, zugunsten welcher sozialen Gruppe diese knapperen Mittel konzentriert werden. Verbal wird heute in den Ruhrgebietskommunen dieser Spagat aufrechterhalten, materiell sind die Entscheidungen zugunsten der Kapital– und Mittelstandsorientierung gefallen. Unsere Untersuchungen zeigen, daß der Lebensalltag der Arbeitslosen, Armen und Alten immer stadtteilbezogener verläuft. Sie werden immer immobiler. Hier müssen auf lokaler Ebene Infrastruktur–Angebote für kollektiven Konsum (Verkehr, Kultur etc.) gemacht werden. Diese sollen gekoppelt werden mit einer aktiven Kulturpolitik. Hier gilt es aber fein zu unterscheiden. Die Träger dieser Bildungsangebote sind selbst meist Bildungsbürger, und die Angebote laufen auf eine Domestizierung der Betroffenen hinaus. Kriterium für die Unterscheidung dieser Bildungs– und Kulturarbeit muß die Förderung des Selbstbehauptungswillens und der Konfliktfähigkeit sein. Diese aktive Kulturpolitik ist deshalb nötig, da ich nicht an eine sich naturwüchsig entwickelnde Kultur der Armut glaube. Zwar haben wir so früher, im Zusammenhang mit der Randgruppentheorie gedacht. Aber Armut und Elend können zu Passivität und Lethargie, sogar auch zu faschistoidem Denken führen. Es muß nicht in emanzipatives Denken und entsprechendes politisches Handeln umschlagen. Ich warne da vor intellektuellen Idealisierungen. Angenommen, die Gewerkschaften würden Ihre Überlegungen teilen, müßten sie dann ihrer Klientel statt Wachstumshoffnungen eine Senkung des Lebensstandards anbieten? Gewerkschaften, die nicht nur regionsborniert denken, müßten sich eigentlich auf bestimmte Teile meiner Überlegungen einlassen können. Allerdings werden sie dann ganz bewußt Abwanderungsprozesse in Kauf nehmen müssen. Denn man kann nicht davon ausgehen, daß die Malocher aus dem Ruhrgebiet nur deswegen von den Bayern ihr Rentnerdasein finanziert bekommen, weil sie zum Beispiel nach dem Nationalsozialismus die Fabriken hier mit ihren eigenen Händen wiederaufgebaut haben. Aber es ist ja auch nicht so, daß ich denke, daß es hier keine Arbeitsplätze im produktiven und im Dienstleistungssektor mehr geben wird. Es ist auch nicht so, daß diese Region keinen Nachholbedarf an Umweltschutz, Bildung etc. hätte. So eine Schrumpfungsregion hat auch Vorteile. Sie schafft Raum für alle möglichen Non– Profit–Bedürfnisse. Anders als etwa in den Ballungszentren wie München oder Stuttgart, können hier leerstehende bauliche Kapazitäten und Areale alternativ zum kapitalistischen Verwertungsinteresse genutzt werden. Gerade im baulich–räumlichen Bereich halte ich es in dieser Region für möglich, daß die einseitige Orientierung an den Bedürfnissen der Montanindustrie aufgebrochen wird. Das sind Überwinterungsstrategien, ich weiß. Aber das Problem einer nicht–emanzipativen Gesellschaft ist in einer Marktwirtschaftsordnung nicht zu lösen. Trotzdem würde so ein Konzept für die hier lebenden Menschen schon viel bedeuten. Halten Sie eine Umorientierung der Kommunalpolitik bei den gegenwärtigen politischen Mehrheitsverhältnissen überhaupt für möglich? Großstadtpolitik in der Bundesrepublik ist gegenwärtig von Kiel bis Stuttgart Angebots– und High– Tech–orientiert. Dies gilt auch für die Ruhrgebietsstädte. Diese originäre CDU–Konzeption kann nicht funktionieren, da die Standort–Wahl für die modernen Wachstumsindustrien bereits gelaufen ist. Außerdem schafft die High–Tech–Industrie nur bei den Herstellern und zum Teil im Servicebereich Arbeitsplätze, nicht bei den Anwendern. Bei denen überwiegen die Rationalisierungsfolgen. Für diese Industrie waren jedoch die Qualifikationen der vorhandenen Arbeitskräfte nicht günstig. Genauso wenig sind die Wohn– und Freizeitbedingungen für die dafür notwendigen Techniker und Ingenieure attraktiv. Die Orientierung auf die Anwerbung dieses neuen Mittelstandes als vermeintlichem Wachstumsträger bringt also nichts. Es müßte den sozialdemokratischen Bürgermeistern eigentlich auch schon längst aufgefallen sein, daß ihr Versuch vergebens ist, diesen neuen Mittelstand über eine baulich–räumliche High– Light– und Image–Politik zu gewinnen. Das Ruhrgebiet ist nun mal keine Freizeitregion, auch wenn wir statistisch gesehen etwa soviele Theater und Bibliotheken je tausend Einwohner haben wie München. Es müßte der Sozialdemokratie eigentlich klar sein, daß sie, weil im produktiven Sektor nichts mehr läuft, bei der Verfolgung der Anwerbepolitik langfristig ihre Klientel verliert. Ich finde es übrigens auch nicht schade, daß diese Anwerbung des neuen Mittelstands nicht funktioniert. Mir geht diese Schicki–Micki–Kultur, da wo sie entsteht, sowieso auf die Nerven. Interview: Corinna Kawaters und Martin Jander S Z E N E K A L E N D E R