„Wir waren sicher, den Täter zu haben“

■ Ein Hamburger Arbeiter wurde 1971 wegen Kindesmord verurteilt / Sein Anwalt grub ein verschollenes Alibi aus und setzte ein Wiederaufnahmeverfahren durch / Nach zwei Verhandlungstagen rückt der Freispruch immer näher

Aus Hamburg Ute Scheub

In einer Verhandlungspause lehnt Holger Gensmer in einer Ecke und raucht nervös. Das am 1.Dezember begonnene Verfahren vor dem Hamburger Landgericht strengt den 45jährigen, der die vergangenen 16 Jahre als Lebenslänglicher im Knast Santa Fu verbrachte, sichtlich an. „Gestern sind die Fotografen hier übereinander gefallen“, sagt er, und sein gerötetes Gesicht mit der Buchhalter–Brille heitert sich ein wenig auf. Fotografen und ein Fernsehteam liegen vor dem Gerichtssaal ständig auf der Lauer. Für den überaus scheuen und introvertierten Gensmer muß es eine große Anspannung sein, nun zum zweiten Mal im Rampenlicht der Öffentlichkeit zu stehen. Das erste Mal war er für die Boulevardpresse schon vor seiner Verurteilung im März 1971 der bestialische Sexualmörder, der ein Jahr zuvor die sechsjährige Birgit König in einem Rahlstedter Wäldchen vergewaltigte, erwürgte und in einen Bach warf. Aus dem Gefühl heraus, sich nicht wehren zu können, hatte er zwei Tage nach seiner Verhaftung die Tat gestanden, danach mehrfach widerrufen und erneut gestanden. Heute hingegen steht er vielmehr als ein Opfer von Polizei und Justiz da, die trotz eklatanter Widersprüche in den Ermittlungen allzuschnell einen Täter für den grausamen Mord, dazu noch an der Tochter eines Polizisten, präsentieren wollte. Sein Fall wirft deshalb auch ein Licht auf die Mechanismen in den Strafverfolgungsbehörden. Außergewöhnlich ist der Fall Gensmer aber auch, weil man an den Fingern zweier Hände abzählen kann, wie oft Wiederaufnahmeverfahren in der bundesdeutschen Nachkriegsgeschichte durchgesetzt werden konnten. Gensmers Anwalt Gerd Strate, ein bekannter linker Revisionsspezialist, hatte es nach über zweijährigen akribischen Ermittlungen auf eigene Faust geschafft. Er grub aus einer Spurenakte, die ihm die Staatsanwaltschaft lange Zeit verweigerte, folgenden, kurz nach dem Kindsmord protokollierte Polizeivermerk aus: „Nach diesen Überprüfungen steht fest, daß Holger Gensmer in der Zeit von 11 bis 13 Uhr ein einwandfreies Alibi hat.“ In dieser Zeit mußte der Mord am 3.April 1970 geschehen sein. Da der damalige Zementarbeiter bei der „Sitte“ im Zusammenhang mit Sexualdelikten einschlägig bekannt war, ist er kurz nach der grausigen Tat überprüft worden. Zwei Polizeibeamte hielten nach Befragung der Beteiligten fest, in der fraglichen Zeit sei Gensmer zweifelsfrei zuerst beim Zahnarzt und dann beim Friseur gewesen. Doch nachdem Holger Gensmer vier Monate später bei der Suche nach einem Mehrfach–Vergewaltiger erneut in die Fänge der Polizei geriet und die Fahnder mit seinem Geständnis beglückte, verschwand das Alibi auf Nimmerwiedersehen. Weder diese beiden Beamten noch die Nachbarn der Familie des Opfers, die Gensmer ebenfalls hätten entlasten können, wurden im Prozeß von 1971 gehört. Das geschieht erst jetzt, wenn auch unter Schwierigkeiten: nach 17 Jahren ist die Erinnerung verblaßt, viele Zeugen sind alt und kränklich geworden, von manchen existiert nur noch eine schriftliche Einlassung, da sie inzwischen verstorben sind. Wenn er das Alibi damals so vermerkt habe, dann stimme das, bestätigt einer der beiden inzwischen pensionierten Kripobeamten. Und insgesamt vier Nachbarinnen haben Birgit König noch am Tattag bis 10.45 Uhr vor dem Haus ihrer Eltern spielen sehen. Den Weg zum Tatort, die Tat selbst und den Gang zu seinem um 11 Uhr aufgesuchten Zahnarzt hätte Gensmer somit innerhalb einer Viertelstunde hinter sich bringen müssen. Daß man allein für die beiden Wege rund eine Stunde braucht, davon überzeugte sich der Vorsitzende Richter Petersen gestern bei einer Ortsbesichtigung selbst. Wie aber kamen dann die detailreichen Geständnisse des Angeklagten zustande? „Ich wollte meine Ruhe haben“, sagte Gensmer. „Ich hab gesagt, die sollen schreiben, was sie wollen, ich unterschreib alles.“ Die Einzelheiten der Tat, Ort und die Kleidung des Mädchens habe er gekannt, denn bei der Vernehmung „wurde mir gut ne dreiviertel Stunde die Lichtbildmappe gezeigt“. Der Verdacht, daß die Ermittler also bewußt oder unbewußt manipulierten, wird immer größer. Doch der in den Zeugenstand gerufene Beamte Ulrich Johannsen vesucht mit behender Geschwätzigkeit Zweifel zu zerstreuen. Ja, Tatortbilder habe man ihm wahrscheinlich schon gezeigt, gibt er zu, aber Bilder von der Leiche, nein, bestimmt nicht. Ja, das Geständnis sei nicht flüssig gekommen, aber: „Wir waren sicher, den Mann zu haben, den wir suchten.“ Das war es ja gerade, warum Gensmer keine Chance sah. Der Prozeß wird nächste Woche fortgesetzt.