Auch der Polarkreis kann den Virus nicht stoppen

■ Zur AIDS–Politik in den skandinavischen Ländern / Spekulationen um eine „AIDS–Insel“ ärgern die schwedischen Behörden / Im Wohlfahrtsstaat ist zwischen Testzwang und -freiwilligkeit nur schwer zu unterscheiden / Dänemark geht „offen, direkt und ehrlich“ gegen AIDS ans Werk / Erste Todesfälle in Island

Aus Bergen Gunnar Köhne

Die Meinung der bundesdeutschen Grünen ist dem Pressesprecher im schwedischen Sozialministerium nun wirklich schnurz. „Da reden mal wieder Leute, die von der schwedischen Politik keine Ahnung haben.“ Der Bundesvorstand der Grünen hatte sich darüber „entsetzt“ gezeigt, daß die schwedische Sozialministerin Gertrud Sigurdsen uneinsichtige AIDS–Kranke auf die Schäreninsel Adelsö schicken will. In Schweden leben derzeit 1.600 bekannte HIV–Virusträger sowie 145 AIDS–Kranke. Der Pressesprecher erläutert: Für diejenigen unter den Erkrankten, die wiederholt gezeigt hätten, daß sie nicht bereit seien, ihr „Sexualverhalten zu ändern“, werde auf Adelsö ein „gemütliches Holzhaus“ mit Platz für zehn Betten ausgebaut. Bisher gebe es drei Kandidaten für die Insel: zwei drogenabhängige Prostituierte und einen Mann. „Sonst müßten diese Personen unter Bewachung in einem Krankenhaus leben. Ist die Hausgemeinschaft auf Adelsö da nicht besser?“ Statt eines „AIDS–Internierungslagers“, wie behauptet wurde, also nicht mehr als eine klassische schwedische Fürsorgestaatsregelung: Wir wollen euer Bestes? Jedenfalls unterscheide sich Schweden von Bayern, und deshalb ärgere man sich im Stockholmer Sozialministerium auch maßlos darüber, daß sie als Kronzeugen für Franz Josef Strauß AIDS–Politik herhalten sollen. Die schwedische Gesundheitspolitik in Sachen AIDS läßt sich - von Adelsö abgesehen - nicht als eindeutig repressiv bezeichnen. So bemüht sich die sozialdemokratische Regierung beispielsweise, Infizierte mit weitreichenden Bestimmungen - wie einem Kündigungsschutz am Arbeitsplatz - vor Diskriminierungen zu schützen. Maßnahmen, die von der Mehrheit der Bevölkerung nicht geteilt werden, wie eine Meinungsumfrage vom Sommer dieses Jahres eindrücklich belegt: Darin befürworten 74 Prozent der Befragten Zwangstests und 40 Prozent wollen AIDS–Kranke isoliert sehen. Sanfter Testzwang Die Behörden tragen freilich ihren Teil zu der Volksangst bei, indem sie regelmäßig an ausgewählte Personenkreise herantreten und sie mit einem Appell an das Verantwortungsgefühl für ihre Mitmenschen bitten, sich AIDS–testen zu lassen. Auf diese Weise haben sich seit April fast 400.000 Schweden der Gruppen Schwangere, Wehrpflichtige, Touristikangestellte und BesucherInnen ambulanter Stationen für Neurologie, Psychiatrie und Gynäkologie „freiwillig“ einem Test unterzogen. Ungebeten - aber natürlich gern gesehen - hat dagegen im norwegischen Nachbarland der nationale Missionarsverband seinen Mitgliedern vorgeschlagen, sich nach jedem Einsatz in Afrika HIV–untersuchen zu lassen. Die Missionare wollen „Vorbild sein“. Norwegens offizielle Strategie gegen die Immunschwäche heißt in erster Linie „Information“. Für die Aufklärung der Bevölkerung über die Krankheit hat die Osloer Regierung in diesem Jahr 90 Mil lionen Kronen (25 Millionen Mark) bereitgestellt, immerhin sieben Prozent des gesamten Gesundheitsbudgets des kleinen Königreiches. Beratungsstellen und Telefondienste finden sich inzwischen auch in entlegenen Kommunen nördlich des Polarkreises. In Oslo können Interessierte von einer „Info–Bank“ die allerneuesten Erkenntnisse über die Krankheit erfahren. Im Zusammenhang mit diesen AIDS–Maßnahmen steht auch die Einrichtung eines telefonischen Sexualberatungsdienstes für Kinder und Jugendliche im September. Dieser Service ist einzigartig auf der Welt. In den unzähligen Broschüren zum Thema - sie liegen in Betrieben neben der Stempeluhr - wird sachlich und nicht zuletzt prak tisch aufgeklärt. Damit Sex auch in AIDS–Zeiten Spaß macht, finden sich im Anhang jeweils reich bebilderte Anleitungen zum „Safer Sex“. Seit Beginn einer großen öffentlichen AIDS–Kampagne auf der Straße und in den Medien vor einem Jahr ist das Wissen der Bevölkerung über die Wege der Krankheit nach letzten Untersuchungen deutlich gestiegen. „Risikogruppen“ staatlich definiert Dies konnte aber die diffusen Ängste nicht beseitigen, wie das Beispiel der Krankenhausärzte zeigt: „Wenn wir den Verdacht haben, daß ein Patient einer Risikogruppe angehört, machen wir einen HIV– Test zu unserem Schutz, notfalls auch ohne Einwilligung des Be treffenden“, bekannten unlängst einige von ihnen freimütig vor der Kamera. Das bedeutet einen klaren Verstoß gegen die Erlasse des Gesundheitsministeriums, die in jedem Fall das Einverständnis des Patienten fordern. Aber die Verantwortlichen wagten nicht, die Gesetzeswidrigkeiten zu ahnden, weil das auch in ihrem Land vermutlich nicht nur das Krankenhauspersonal gegen sie aufgebracht hätte. Die Debatte um die Mediziner war symptomatisch. Die Kritiker hoben einzig die Mißachtung eines amtlichen Erlasses hervor. Gegen die Methode, willkürlich und per Inaugenscheinnahme zu bestimmen, wer einer „Risikogruppe“ angehört, erhob sich indes keine einzige öffentliche Stimme. Daß wiederum die Definition „Risikogruppe“ allgemein als quasi amtlich aufgefaßt wird, könnte dafür eine Erklärung sein. Das Vertrauen in die politischen Instanzen ist in Nordeuropa - infolge fehlender wirklich böser Erfahrungen mit ihnen - weitgehend ungebrochen. Auch Dänemarks Gesundheitspolitiker setzen auf die Aufklärung über AIDS und gehen dabei mit Gelassenheit und viel Witz vor. Die Informationen sollen, so eine Regierungskommission, „offen, direkt und ehrlich“ sein. Das „direkt“ äußert sich darin, daß Kopenhagens Busse mit riesigen aufgemalten Kondomen durch die Gegend fahren. Und daß in Zeitungsannoncen Fußballspieler beruhigt werden, die gerne ihre Kameraden nach dem Tor in die Arme nehmen (“Was hat Fußball mit AIDS zu tun? - Gar nichts!“), wird als „Ehrlichkeit“ verstanden. Gute Erfahrungen hat die bürgerliche Regierungskoalition mit der Verteilung von Einwegspritzen an Heroin–Abhängige gemacht. Die Registrierung von „HIV–Positiven“ wird von allen im Folketing vertretenen Parteien - mit Ausnahme der rechtspopulistischen „Fortschrittspartei“ - abgelehnt. Auch Island von AIDS erreicht Auf Island schließlich ist man sich da nicht mehr ganz so sicher, seit die Seuche auch ihr abseitiges Land erreicht hat. 32 Infizierte sind bekannt, zwei Menschen befinden sich im letzten AIDS–Stadium und zwei sind bereits gestorben. Im Mai 1986 beschloß die Regierung erst einmal ein Gesetz, nach dem AIDS zu den Geschlechtskrankheiten zu rechnen sei. Das verpflichtet die Ärzte, sofort die Gesundheitsbehörde zu verständigen, wenn sie Anti–Körper im Blut eines Patienten entdecken sollten - „anonym oder nur unter Angabe der Identitätsnummer“, wie es dazu etwas widersprüchlich heißt. Sodann sollen sich die Ärzte auf die Suche nach möglicherweise ebenfalls infizierten Sexualpartnern des Entdeckten begeben. Wie sie das anstellen sollen, läßt die Bestimmung offen, aber selbst Reykjavik mit seinen 80.000 Einwohnern ist ja noch einigermaßen überschaubar. Ein unerwarteter Erfolg wurde übrigens der vom Gesundheitsminister bei einem bekannten Pop–Sänger der Insel bestellte Schlager zum Thema „Kondome schützen“. Er führte vier Wochen die isländischen Hitlisten an.