Gipfelstürmer in den START–Löchern

■ Im eigentlichen Mittelpunkt des Treffens von Washington steht der Gipfel in Moskau / Von Stefan Schaaf

Heute betritt P durch den US–Senat. Trotzdem möchte Reagan im nächsten Jahr, noch vor seinem Abtritt, ein zweites Abkommen unterschreiben - ein Wunsch, der von Gorbatschow geteilt wird. Deshalb geben sich neuerdings beide Seiten bei den strategischen Raketen und selbst bei SDI kompromißbereit.

Das Pressezentrum ist noch nicht fertig eingerichtet, Gorbatschow noch nicht da, aber sonst ist eigentlich alles für das Gipfeltreffen bereit. Die Abflußgullis entlang der Route des sowjetischen Parteichefs von der Andrews Air Force Base zur sowjetischen Botschaft in der Innenstadt Washingtons sind zugeschweißt, die Kellner und Zimmermädchen im Madison– Hotel, in dem der Rest der sowjetischen Delegation wohnen wird, sind vom FBI sicherheitsüberprüft. Ein Teil der seit Wochen mit Vorbereitungen beschäftigten Demonstranten wollte nicht mehr bis Montag warten, wenn Gorbatschow aus Moskau einfliegt, oder bis Dienstag gar, wenn der Vertrag über die Mittelstreckenwaffen unterzeichnet werden soll. Sie gingen schon am Samstag auf die Straße. Die Friedensorganisation SANE/Freeze bildete am Mittag eine Menschen– und Blumenkette zwischen dem Weißen Haus und der Sowjetbotschaft, und eine Delegation von Kindern aus 13 Ländern übergab an der sowjetischen Mission Blumen. Weniger freundlich ging es am Sonntag zu, als Zehntausende jüdischer Amerikaner in der Nähe des Weißen Hauses nach Ausreisegenehmigungen für sowjetische Juden verlangten. Vizepräsident Bush und Senatsführer Dole nutz ten die Demonstration, um für ihre Präsidentschafskandidaturen zu werben. Ukrainische, baltische und lettische Exilanten werden in den nächste Tagen gegen die Unterdrückung ihrer Nationalitäten in Gorbatschows Sowjetunion protestieren. Afghanische Studentengruppen haben gleich zwei Kundgebungen angemeldet, denn es gab ideologischen Streit zwischen Fundamentalisten und Monarchisten. Konservative Ultras, erbittert über Reagans plötzliche Friedfertigkeit gegenüber dem „Reich des Bösen“, werden gegen den „Verräter“ und seinen Pakt mit dem „Kommunisten“ mobilisieren. Bereits am Freitag kündigten ihm die Größen der konservativen Bewegung ihre zwanzig Jahre alte Liebe auf. Reagan sei „ein nützlicher Idiot der Kreml–Propaganda“ geworden, erklärte Howard Phillips, Präsident des „Conservative Caucus“ auf einer Pressekonferenz in Washington, auf der die Gründung eines gegen den INF–Vertrag arbeitenden Bündnisses ultrakonservativer Organisationen bekanntgegeben wurde. Richard Viguerie, einer der erfolgreichsten Spenden– und Stimmenbeschaffer Reagans, meinte: „Ich kenne diesen Mann nicht mehr.“ Wer am Abend zuvor Reagans halbstündiges Fernsehinterview gesehen hatte, war in der Tat überrascht, wie gleich mehrere Grundsätze von ihm über Bord geworfen wurden, die er bislang mit den Konservativen geteilt hat. Die Sowjetunion unter Gorbatschow sei nicht länger ein Land, so Reagan, das einen „weltumspannenden kommunistischen Staat“ anstrebe, sondern habe ihre Bereitschaft erklärt, „mit anderen Philosophien in anderen Ländern zu koexistieren“. Obendrein wandte sich Reagan gegen eine Verknüpfung von Rüstungskontrollmaßnahmen und Menschenrechtsfragen - bisher das beliebte letzte Argument der Ultras gegen jeden Abrüstungsvertrag. Die Ultras werden den „Verrat“ Reagans nicht auf sich sitzen lassen und alles in Bewegung setzen, um die Ratifizierung des Abkommens durch den Senat zu verhindern. Auch bei verschiedenen Organisationen der Friedensbewegung stößt der Vertrag auf Skepsis. Die Motive sind freilich andere: Der Vertrag ändere nur wenig an den gegenseitigen Vernichtungspotentialen, könne aber von der Reagan–Administration benutzt werden, um sich fortan vor Kritik aus der Friedensbewegung zu schützen. Reagan habe sich nicht wirklich gewandelt, ihm sei vielmehr schon immer sein Image wichtiger gewesen als politische Grundsätze. Außerdem zeitige der Vertrag wenig militärische Konsequenzen. Jedes Ziel innerhalb der Reichweite der sowjetischen SS–20 ist auch durch sowjetische Langstreckenraketen zu treffen; für das US–Arsenal gilt, daß die auf U– Booten stationierten Trident II–D 5–Raketen Ziele in der UdSSR genauso in sechs bis acht Minuten erreichen können wie die Pershing IIs“, sagt Howard Morland von der „Coalition for a New Foreign and Military Policy“. „Ohne ein nachfolgendes Abkommen über atomare Langstreckenraketen wird mit dem INF–Abkommen nicht mehr erreicht als eine Verlagerung der Waffen aus dem potentiellen Schlachtfeld“, fügt Morland hinzu. Dennoch glaubt er, daß der Vertragsabschluß in erster Linie das Verdienst der Friedensbewegung ist. „Damit meine ich die Friedensbewegung in Europa und nicht so sehr die hiesige, denn die Pershings und Cruise Missiles waren nie so sehr ein Anliegen hier, auch wenn meine und andere Organisationen sich sehr darum bemüht haben.“ Es gebe für Reagan und Gorbatschow keinen militärischen Grund, die Mittelstreckenraketen getrennt von allen anderen zu behandeln, außer daß die Friedensbewegung jahrelang gegen sie protestiert hat. Die Tatsache, daß die Friedensbewegung einen solchen Vertrag durchsetzen konnte, ist an sich natürlich ein Erfolg. „In diesem Sinn ist das Abkommen ein guter, wenn auch kleiner Schritt in die richtige Richtung.“ Dunbar Lockwood vom Washingtoner „Center for Defense Information“, einem liberalen und Reagan–kritischen Forschungszentrum, würde den ersten Preis für die Bemühungen um den Vertrag nicht der Friedensbewegung, sondern dem sowjetischen Parteichef verleihen. „Gorbatschow wollte die Beziehungen zum Westen verbessern. Den Vertrag will er nicht abschließen, weil Reagan sich so lange so unnachgiebig gegeben hat, sondern weil er damit die Reputation der Sowjetunion in Westeuropa erhöht.“ Die Friedensbewegung habe aber erreicht, daß Rüstungskontrolle auf der politischen Tagesordnung verankert sei, und daß im Kongreß entschiedener dafür eingetreten werde. Dennoch reiche das Starren auf die Raketen nicht aus. „Mir wird der Begriff Frieden zu eng mit Nuklearwaffen verknüpft. Wir haben zur Zeit vierzig Kriege auf der Erde, und keiner wird durch diesen Vertrag beendet.“Howard Morland hält das Herauspicken einzelner Teilprobleme durch die Friedensbewegung für einen Fehler. „Ob es jetzt der Freeze war, die MX–Rakete oder die Haushaltsmittel für Star Wars. Wir müssen auf die den Ost–West–Spannungen zugrundeliegenden Strukturen achten.“ Die Bewegung müsse sich viel mehr historische und auch ökonomische Kenntnisse aneignen. „Die Friedensbewegung in den USA besteht heute zum größten Teil aus Leuten auf den Adressenkarteien von Organisationen wie unserer, die zwanzig Dollar im Monat oder im Jahr überweisen und dafür ihren Newsletter bekommen. Sie ist fester Bestandteil des politischen Systems geworden, und darin liegt auch ihre Zukunft.“