Zuckerbrot für DDR–Opposition

■ DDR–Staatsanwaltschaft stellt Ermittlungsverfahren gegen vier Mitarbeiter der oppositionellen Umweltbibliothek ein / Staatssekretär Gysi kritisiert westliche „Medienkampagne“ / Oppositionelle befürchten neue Aktionen gegen unabhängige Zeitschrift Grenzfall

Aus Ost–Berlin Clara Roth

Die Ermittlungsverfahren gegen vier Mitarbeiter der Ost–Berliner Umweltbibliothek werden eingestellt. Mit minutenlangen Beifallsstürmen wurde diese überraschende Nachricht am Freitag abend in der Zionskirche aufgenommen. Rund 1.000 Menschen, unter ihnen Mitglieder der Ost– Berliner Kirchenleitung und Vertreter von unabhängigen Öko– und Friedensgruppen aus der ganzen DDR waren versammelt, um über weitere Protestaktionen nach der Stasi–Razzia in der Umweltbibliothek zu diskutieren. Die sind vorerst nicht mehr nötig: Der von der Kirche beauftragte Rechtsanwalt Schnur überbrachte die „verbindliche Zusage“ der Staatsanwaltschaft, die Ermittlungsverfahren einzustellen. Den vier Mitarbeitern der Umweltbibliothek hätte wegen „Zusammenschluß zur Verfolgung gesetzeswidriger Ziele“ (§218) bis zu fünf Jahren Haft gedroht. Schnur hatte am Freitag vormittag mit der Staatsanwaltschaft sprechen können. Nach deren Darstellung war die Razzia am 25.11. nicht gegen die Umweltbibliothek gerichtet, sondern gegen die außerhalb des kirchlichen Schutzes erscheinende unabhängige Zeitung Grenzfall. Der Verdacht, daß der Grenzfall in der Umweltbibliothek gedruckt werde, habe sich jedoch nicht beweisen lassen. Während die 1.000 Versammelten dem staatlichen Einlenken Beifall spendeten, zeigten die DDR–Behörden an anderer Stelle unveränderte Härte: drei Mitgliedern der Westberliner AL wurde die Einreise verweigert. Die Kirchenleitung verteilte auf der Versammlung ein „Schnellinfo“, das Hinweise auf Gründe für das plötzliche staatliche Einlenken gibt: das große Echo in den West–Medien hat demnach bei der DDR–Führung Wirkung gezeigt. Beim Gespräch mit der Kirchenleitung am 2.Dezember hatte sich der für Kirchenfragen zuständige Staatssekretär Gysi heftig über die westliche „Medienkampagne“ beschwert, die dazu diene Fortsetzung auf Seite 2 Gastkommentar auf Seite 4 „die Politik der Entspannung und Öffnung zu hintertreiben und das Verhältnis von Staat und Kirche zu stören“. Auch die Proteste der DDR–Basisgruppen, vor allem die Mahnwache in der Zionskirche, hatten die DDR–Führung verärgert: Diese Protestaktionen „heizen die Situation an“, monierte Gysi im Gespräch mit der Kirchenleitung. Die Kirche müsse endlich sicherstellen, daß sie nicht „für gesetzeswidrige Aktionen mißbraucht“ werde und die Dinge wieder „in vernünftige Bahnen lenken“. Laut „Schnellinfo“ habe Gysi unterstrichen, daß der Staat nicht an einer Verschlechterung des Verhältnisses zur Kirche interessiert sei. Die Kirchenleitung hatte sich nach der Razzia hinter die Umweltbibliothek gestellt und sich für die Einstellung der Ermittlungsverfahren eingesetzt. Diskutiert wurde am Freitag abend in der Zionskirche nicht. In einer abschließenden Andacht forderte der Pfarrer der Gemeinde, Simon, den Dialog zwischen den DDR–Basisgruppen und dem Staat aufzunehmen. Ein offener „Streit der Ideologien“, für den sich die SED in ihrem gemeinsamen Papier mit der SPD ausgesprochen hat, müsse auch innerhalb des Landes möglich sein. In Gesprächen am Rande der Versammlung wurde viel über die Ursachen des staatlichen Nachgebens diskutiert: „Vielleicht haben die nicht damit gerechnet, daß die zerstrittenen Basisgruppen sich so solidarisch gemeinsam zur Wehr setzen“, spekulierte ein Vertreter einer Menschenrechtsgruppe. Die Auseinandersetzung zwischen Staat und unabhängigen Gruppen sei jedoch „noch lange nicht zu Ende“. Die staatlichen Stellen wollten als nächstes die unabhängige Zeitschrift Grenzfall kaputtmachen. „Wenn den Grenzfall–Herausgebern was passiert, wird es die gleiche Solidarität geben wie jetzt“.