: ÖTV–Chefin legt Priorität auf Wochenarbeitszeit
■ Öffentlicher Dienst um Anschluß an private Wirtschaft bemüht / Solidarität der anderen Gewerkschaften diesmal schwer / Müll– und Wasserwerker voran
Von Martin Kempe
Monika Wulf Mathies, die Vorsitzende der Gewerkschaft Öffentliche Dienste, Transoport und Verkehr (ÖTV) sieht bewegte Zeiten auf sich und ihre Organisation zukommen. Denn ab Februar nächsten Jahres hat sie für die gesamte Organisation einen Urlaubsstopp verfügt. Die Funktionäre der ÖTV sollen, wenn die zweitgrößte Einzelgewerkschaft im Frühjahr eine Arbeitszeitverkürzung im Öffentlichen Dienst durchsetzen will, auf dem Posten sein. Tatsächlich deuten viele Anzeichen darauf hin, daß die Durchsetzung von Arbeitszeitverkürzung, im gewerblichen Bereich 1984 zum ersten Mal von der IG Metall erkämpft, für die Arbeiter und Angestellten des Staates einen besonderen Kraftakt erfordern wird. In den Erklärungen der öffentlichen Arbeitgeber wird die derzeit geltende 40–Stunden–Regelung fast ebenso umstandslos zum unantastbaren Tabu erhoben wie seinerzeit vom Arbeitgeberverband Gesamtmetall. Und dabei geht es nach Meinung der ÖTV und der anderen Gewerkschaften des Öffentlichen Dienstes doch nur darum, Anschluß zur Privatwirtschaft zu halten. Dort sind inzwischen für fast die Hälfte aller Beschäftigten, für insgesamt 9,8 Millionen Arbeiter und Angestellte, kürzere Wochenarbeitszeiten zwischen den Tarifparteien vereinbart worden. Die ÖTV hat sich in der Vergangenheit bei der innergewerkschaftlichen Kontroverse um Wochenarbeitszeitverkürzung contra Vorruhestand schwer getan. Zwar war es ein offenes Geheimnis, daß die Vorsitzende Wulf– Mathies und ein Teil des hauptamtlichen ÖTV–Apparates die Forderung nach der 35–Stunden– Woche favorsisierten, aber die Widerstände in den konservativen Bereichen der Organisation waren so groß, daß man sich immer wieder auf ein „Sowohl–als–auch“ einigte. Da aber das Vorruhestandsgesetz von der Bundesregierung nicht über 1988 hinaus verlängert wurde, so heißt es bei der ÖTV, seien inzwischen die politischen Voraussetzungen für eine Vorruhestandsstrategie im Öffentlichen Dienst entfallen, bleibe die Wochenarbeitszeitverkürzung das einzige der gewerkschaftlichen Tarifpolitik verfügbare Mittel im Kampf gegen die Arbeitslosigkeit. So betonte Monika Wulf–Mathies zu Beginn einer ÖTV–Aktionswoche Anfang Dezember, in der Tarifrunde 88 habe die Verkürzung der Wochenarbeitszeit „absolute Priorität“. Natürlich wissen auch die Spitzenfunktionäre der ÖTV, daß sie angesichts bestehender Ressentiments gegen den Öffentlichen Dienst mit der Forderung schlecht landen können, es solle von den einzelnen Beschäftigten weniger gearbeitet werden. Was für die Müllwerker vielleicht noch richtig erscheinen mag, ist es für Angestellte in vielen Behörden schon weniger: daß der überbordende Streß die kürzere Wochenarbeitszeit erfordere. Andererseits setzt das Argument der Arbeitgeberseite, Arbeitszeitverkürzung führe unweigerlich zu Leistungseinschränkungen in den staatlichen Verwaltungen, bei Sozialbehörden und Bibliotheken, bei Hallenbädern und innerer Sicherheit, gleichfalls voraus, daß die vorhandene Arbeit in kürzerer Zeit nicht zu schaffen sei. Nach Schätzungen der ÖTV würden im Öffentlichen Dienst mit der 35–Stunden–Woche rund 350.000 Arbeitsplätze neu geschaffen beziehungsweise gesichert. Man kann diese aus der gewerblichen Wirtschaft übertragenen Berechnungen akzeptieren oder nicht - die Möglichkeiten der Kompensation kürzerer Wochenarbeitszeiten dürften in kaum einem Bereich unterschiedlicher sein als im Öffentlichen Dienst. Das Gleiche gilt für die Möglichkeiten der Durchsetzung: Wie immer, wenn die ÖTV in der Vergangenheit ihre Muskeln hat spielen lassen, wird sie auch diesmal auf ihre kampferprobten Bataillone zurückgreifen müssen, die Müll– und Wasserwerker, die Bus– und Straßenbahnfahrer. Ob jene Bereiche, in denen die Gewerkschaft in den letzten Jahren besondere Zuwächse verbuchen konnte - die Sozialberufe, die Beschäftigten der Krankenhäuser und Universitäten etwa -, wenn es ernst wird, im nächsten Frühjahr ebenfalls durch gewerkschaftliche Aktivitäten Partei für die Arbeitszeitverkürzung ergreifen werden, gilt innerhalb der Organisation als schwer kalkulierbar. Daß die ÖTV keinen leichten Stand haben wird, liegt nicht allein an der sich abzeichnenden Kompromißlosigkeit der Öffentlichen Arbeitgeber, deren Sprecherin, die niedersächsische Wirtschaftsministerin Birgit Breuel, die ÖTV–Forderung nach einem Gesamtvolumen von fünf Prozent (Gehaltserhöhung plus Arbeitszeitverkürzung) bereits brüsk zurückgewiesen hat. Die ÖTV wird in der Tarifrunde des nächsten Jahres ziemlich allein stehen. Die kampfkräftigen Industriegewerkschaften Metall sowie Druck und Papier haben sich mit langfristigen Tarifverträgen bis 1990 festgelegt. Lediglich die IG Bau–Steine–Erden wird im nächsten Jahr für Arbeitszeitverkürzung streiten. Aber eine Koordination zwischen ÖTV und Baugewerkschaft dürfte angesichts der weit auseinanderfallenden Organisationsbereiche schwerfallen. Die ÖTV–Vorsitzende muß also auf die Kraft ihrer eigenen Oganisation bauen und die Widerstände in der Öffentlichen Meinung durch offensive Öffentlichkeitsarbeit abzubauen versuchen. Zu Beginn der Aktionswoche appellierte sie deshalb nicht nur an die ÖTV–Mitglieder, sondern an „Bürger und Politiker“, die ÖTV– Forderung zu unterstützen. „Die 40–Stunden–Woche im Öffentlichen Dienst muß nicht geknabbert, sie muß geknackt werden“, gab sich Wulf–Mathies kämpferisch. Im Januar wird die ÖTV auf ihren Bezirkskonferenzen noch einmal versuchen, die Moral in der Mitgliedschaft zu stärken. Ab Februar dann die Urlaubssperre, deren Dauer angesichts aller Unwägbarkeiten der Tarifrunde 88 offengelassen wurde.
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