Herausforderung

■ Luc Rosenzweig: Wo beginnt Europa?

Sollen wir in Jubel ausbrechen, um den bevorstehenden Abzug der Pershing 2 und Cruise Missiles von europäischem Boden zu begrüßen? Die Genugtuung darüber, daß nun einige der „Teufelsmaschinen“ verschrottet werden, ist berechtigt. Sie darf aber nicht über die fortbestehende Wirklichkeit hinwegtäuschen. 1. Weniger Raketen bedeuten nicht gleichzeitig auch mehr Sicherheit. So schwierig es auch einzusehen ist, insbesondere für einen Deutschen: Die Existenz von Nuklearwaffen hat zu einem strategischen Denken geführt, das auf der Unmöglichkeit beruht, einen Krieg zu führen. „Nuklearisierte“ Zonen sind, seit 40 Jahren, Zonen des Friedens, während in „atomfreien“ Gebieten Kriege stattgefunden haben. 2. Rußland bleibt auch mit Gorbatschow eine Weltmacht mit Hegemonieanspruch, dem ein Europa gegenübersteht, das Mühe hat, ein Verständnis von sich selbst zu finden. Wo beginnt und wo endet Europa? Ist es eine geopolitische Einheit oder eine Wertegemeinschaft, die sich aus dem Humanismus des 18. Jahrhunderts entwickelt hat? Wenn die neue Phase der Entspannung dem alten Kontinent auch nicht mehr Sicherheit bringt, so zwingt es ihn doch, aus seiner Denkfaulheit herauszukommen. Man kann Europa nicht mehr in den Kategorien von Jalta denken. Es ist bedauerlich, daß dies dem Anstoß des wichtigsten Führers eines Landes zu verdanken ist, dessen wahres Denken und dessen Prinzipien dem demokratischen Konsens in Ost und West entgegengesetzt sind. Am Ende des ersten Teils eines planetaren Tauschhandels zwischen einem kalifornischen Cowboy und einem Muschik aus Stavropol steht die Herausforderung an das europäische Denken. Das Europa des 21. Jahrhunderts muß klarstellen, daß es sich gegen alle die verteidigen wird, die es in seiner Freiheit beinträchtigen wollen, dabei aber die Türen für diejenigen öffnen, die an seinem Klub teilnehmen wollen. Die Macht der Waffen und das Lächeln der Vernunft sind nicht unvereinbar.