Wachsende Proteste im besetzten Gaza–Streifen

■ Vierzehnjähriger Palästinenser erlag seinen Verletzungen / Proteste griffen auch auf die Westbank über / Israelische Militärs befürchten, die Situation könne „außer Kontrolle“ geraten / Militär soll „mit eiserner Faust“ gegen Demonstranten vorgehen

Aus Tel Aviv Amos Wollin

Der Widerstand der palästinensischen Bevölkerung des besetzten Gaza–Streifens nimmt zunehmend den Charakter einer Revolte gegen die israelische Besatzung an. Offiziellen Angaben zufolge wurde am Mittwoch ein arabischer Jugendlicher erschossen und drei weitere Personen schwer verletzt, als Besatzungskräfte gegen Demonstrationen im Gaza– Streifen vorgingen. Einer von ihnen, der vierzehnjähriger Ibrahim Abussalem aus Khan Younis, erlag am Donnerstag seinen Verletzungen. Für das Wochenende wird mit weiteren „Unruhen“ gerechnet. Israel hat Verstärkung entsandt und eine Politik der „Eisernen Faust“ angeordnet, um die Proteste zu beenden. Die neue Qualität der Proteste der jungen Palästinenser zeigte sich am Mittwoch bei einem Besuch in Gaza. Der Kampf gegen die Besatzung nimmt wagemutigere Formen an, die Jugendlichen haben das Gefühl, nichts mehr zu verlieren zu haben, und sind bereit, alles zu riskieren. Unter den jungen Palästinensern, deren Eltern oder Großeltern zumeist Flüchtlinge waren, spielt die Angst vor Repression kaum noch eine Rolle. In der gespannten Lage im Gaza–Streifen kann jeder Funke leicht eine massive Revolte auslösen. Im Flüchtlingslager Jabalia wurden am Donnerstag israelische gepanzerte Fahrzeuge von einer unbewaffneten Menge angegriffen, die damit auf den Tod von vier Arbeitern reagierte. Die Palästinenser waren unter unklaren Umständen im Zuge eines angeblichen Verkehrsunfalls ums Leben gekommen. Als die israelischen Soldaten das Feuer auf die Bewohner von Jabalia eröffneten, griffen die Proteste auf alle Teile des dichtbesiedelten Gaza–Streifens über. Geschäfte und Schulen blieben geschlossen, auch kamen in den letzten zwei Tagen keine palästinensischen Arbeitskräfte mehr nach Israel. Daß Mißtrauen der Bevölkerung gegenüber allem und jedem, was aus Israel kommt, ist groß. Denn es hatte sich herausgestellt, daß israelische Agenten die Nummernschilder ihrer Autos auswechseln, bevor sie in den Gaza– Streifen kommen. Mißtrauen herrscht auch gegenüber Journalisten: Hinter jedem Fragesteller könnte sich ein Geheimdienstler verbergen... Der Ausbruch der Proteste ist zum großen Teil spontaner Natur. Anders als in der besetzten Westbank gibt es im Gaza–Streifen keine nationale palästinensische Führung. Aber die jüngsten Eregnisse haben bereits auf die Westbank übergegriffen. Auch hier kam es am Mittwoch zu einer Welle von Protesten und Demonstrationen. Hunderte wurden fest genommen, nachdem es in Kalandia bei Ramallah zu Zusammenstößen zwischen Jugendlichen und Grenzpolizisten gekommen war. Zahlreiche Palästinenser wurden mit Schuß– oder Schlagstockverletzungen in Krankenhäuser eingeliefert. In Nablus tötete ein israelischer Heckenschütze einen demonstrierenden palästinensischen Jugendlichen und verletzte einen weiteren Demonstraten. Der Vertrieb der in Ostjerusalem erscheinenden Zeitung Al Fajr in den besetzten Gebieten wurde für zehn Tage untersagt, nachdem das Blatt unter Umgehung der Zensur über die Proteste im Gaza–Streifen berichtet hatte. In der israelischen Presse wurden am Donnerstag Militärkreise mit den Worten zitiert, mit eiserner Faust müßten jetzt scharfe Maßnahmen ergriffen werden, ehe die Situation außer Kontrolle gerät. Doch eine solche Entscheidung ist im Moment nicht zu erwarten, da Verteidigungsminister Rabin und Außenminister Peres in den USA sind, während Präsident Herzog übers Wochenende zu einem offiziellen Besuch in London weilt.