Wahlen - den Flamen und Wallonen zuliebe

■ Gestern wurde in Belgien gewählt / Hinter dem Sprachstreit zwischen Wallonen und Flamen stecken heute ökonomische Diskrepanzen / Flandern blüht durch neue Industrien auf, während in Wallonien die Arbeitslosigkeit wächst

Von Antje Bauer

Die Belgier haben am Sonntag ihr Parlament gewählt. Die vorgezogene Wahl war angesetzt worden, nachdem die von Ministerpräsident Wilfried Martens geführte Koalition aus Christdemokraten und Konservativen im Oktober am neu aufgeflammten Sprachenstreit zerbrochen war. Sieben Millionen Belgier waren aufgerufen, ihre Stimme abzugeben. Der Anlaß: Jose Happart, französischsprachiger Bürgermeister in dem flämischen Dorf Voer, hatte sich wiederholt geweigert, einen Sprachtest für Flämisch abzulegen. Das belgische Sprachengesetz schreibt vor, daß in einer zweisprachigen Gemeinde ein Bürgermeister die Sprache der Provinz beherrschen muß, zu der der Ort gehört. Happart hatte sich geweigert, Flämisch zu sprechen, um damit seinem Protest gegen den flämischen „Imperialismus“ Ausdruck zu verleihen. Nachdem mehrere Schlichtungsversuche gescheitert waren, hatte der flämische Premier Wilfried Martens seinen Rücktritt eingereicht. Das Verhältnis zwischen Wallonien und Flandern ist historisch belastet. Lange Zeit hatten die katholischen Wallonen, die sich an Frankreich ausrichteten, die Vormacht im Staate. Da in ihrem Gebiet die Kohle– und Stahlindustrie des Landes angesiedelt war, lag auch die wirtschaftliche Macht in ihren Händen. Seit der Krise in der Schwerindustrie hat Wallonien jedoch zunehmend an Bedeutung verloren, neue Industriezweige wie Computertechnologie siedelten sich im flämischen Teil des Landes an. Seither wächst die Schere zwischen Wallonien und Flandern: Während im ersteren die Arbeitslosigkeit rapide steigt und der Lebensstandard weiter sinkt, hat sich Flandern zu einer blühenden Gegend entwickelt. Der Wahlkampf wurde denn auch von seiten der Opposition mit Schwerpunkt auf dem Sprachenstreit geführt, während Wilfried Martens auf die Errungenschaften seiner Austeritätspolitik hinwies. Er hütete sich jedoch, seinen Wahlkampf explizit gegen die Sozialisten zu richten, da er möglicherweise gezwungen sein wird, sie in seine Regierungskoalition aufzunehmen. Die Hauptaufgabe der nächsten Legislaturperiode wird nämlich darin bestehen, für eine neue gültige Definition der beiden Landesteile zueinander und zum gemeinsamen Staat eine Verfassungsänderung zu verabschieden - und das geht nur mit zwei Dritteln der Stimmen im Parlament. Verlierer bei einer großen Koalition würde die Liberale Partei sein, die bislang der Juniorpartner von Wilfried Martens Volkspartei gewesen ist.