„Die beste Regierung ist die, die am wenigsten regiert“

■ sprach der Vater der US–Verfassung, Thomas Jefferson / Die 200jährige Geschichte der Verfassung ist auch die Story vom ewigen Argwohn gegen die Zentralregierung / In Washington begann das Hearing über die Nominierung eines neuen Bundesrichters / Der neue Kandidat Kennedy gilt als Mainstream–Konservativer

Von Edmund R. Hanauer

Im dritten Anlauf wird es wohl klappen. Zwei Wunschkandidaten Reagans für einen Sitz im Obersten Bundesgericht hat der Senat bereits abgelehnt. Seit gestern findet in Washington das Hearing über den 51jährigen Antony Kennedy statt. Trotz seines großen Namens - er hat nichts mit dem Kennedy–Clan zu tun - gilt Kennedy als stromlinienförmig: er soll weder Dope geraucht haben noch machte er durch reaktionäre Grundsatzurteile auf sich aufmerksam wie der Ex–Kandidat Bork. Kennedy ist kein Richter des Prinzips, sondern urteilt von Fall zu Fall, dabei stets konservativ. So unterstützte er als Richter am Berufungsgericht die Navy in ihrer Praxis, schwule Soldaten als Sicherheitsrisiko zu entlassen. Kurz vor Ende seines Mandats möchte Präsident Reagan der Geschichte noch etwas auf den Weg geben: Mit Hilfe einer konservativen Mehrheit im Obersten Gerichtshof, in seiner Wichtigkeit dem Bundesverfassungsgericht vergleichbar, soll die Rechtsprechung auf den Stand von 1937 zurückgeführt werden. Bis dahin hatten die Bundesrichter auf Eingriffe in die wirtschaftlichen Freiheiten stets Einspruch erhoben, bei Einschränkungen der Bürgerrechte jedoch die Tugend der Zurückhaltung geübt. Sie meinten, daß wirtschaftliche Fragen am besten von der Regierung, nicht aber von der Justiz entschieden werden sollten. 1937 kam es unter Franklin D. Roosevelt und unter dem Druck der öffentlichen Meinung zu einem Kurswechsel; wenn ein Gesetz die Wirtschaft einschränkte, fand es jetzt eher die Billigung des Obersten Gerichtshofs, wenn es individuelle Rechte beschnitt, aber nicht unbedingt. Das ist im großen und ganzen 50 Jahre lang so geblieben. Reagan und sein Justizminister und langjähriger Berater Edwin Meese vertreten die Ansicht, der Oberste Gerichtshof sollte sich nicht so leicht über die Mehrheit im Kongreß oder in einem bundesstaatlichen Parlament hinwegsetzen können. Damit finden sie Anklang bei Konservativen wie auch bei denjenigen, die sich für eine Ausweitung der Macht auf bundesstaatlicher Ebene einsetzen. Um den Konflikt zwischen Bundesrecht und dem Recht der souveränen Einzelstaaten verstehen zu können, muß ein Blick in die amerikanische Geschichte geworfen werden. Die Verfassungsväter von 1787 taten alles, um den Bundesstaaten im Gesamtsystem erhebliche Befugnisse zu gewährleisten. Dazu gehörten gemeinsam mit der Bundesregierung ausgeübte Befugnisse (wie das Recht zur Erhebung von Steuern und ihre Verwendung zum allgemeinen Wohl) wie auch Befugnisse, die die Bundesregierung nicht hatte (wie die Entscheidung über Wahlberechtigung). Groll gegen Washington Das Festhalten an regionalen Machtstrukturen hat in den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts mit zum Bürgerkrieg beigetragen, und es hat diesen Krieg - vor allem im Süden - überdauert. Selbst heute, wo die Verbundenheit mit einem Staat oder einer Region durch die Mobilität der Amerikaner aufgeweicht wird, führt die Verschiedenartigkeit von Werten und Gegebenheiten zu der Meinung, die „Bürokratie in Washington“ sollte dem Rest der Nation keine Vorschriften machen. Gesetze zur Regelung des Waffenbesitzes und Geschwindigkeits begrenzungen auf 55 Meilen in der Stunde mögen in dichtbesiedelten Staaten wie New York oder Massachusetts durchaus populär sein, in ländlichen Gegenden aber kann das anders aussehen. Daß Robert Bork so umstritten war, hat deshalb viel mit Entscheidungen des Obersten Gerichtshofs zu tun, die die Macht der Einzelstaaten einschränken - die zum Beispiel einzelnen Staaten das Recht absprechen, die Abtreibung oder den Gebrauch empfängnisverhütender Mittel zu verbieten oder die Todesstrafe auszuschließen. Die Bestätigung eines konservativen Richters könnte auch zur Aufhebung von Entscheidungen des „Supreme Court“ führen. Denn diese Entscheidungen wurden oft mit 5:4 Stimmen getroffen, wobei der jetzt in den Ruhestand tretende Richter Lewis Powell mit der Mehrheit gestimmt hatte. Im Februar 1987 hat der Oberste Gerichtshof zum Beispiel ein Programm zur Beförderung einer gleichen Anzahl von Schwarzen und Weißen bei der Polizei von Alabama gebilligt. Das Programm schreibt vor, daß jede Beförderung eines Weißen durch die eines Schwarzen ausgeglichen werden muß, bis die Schwarzen in den oberen Dienstgraden einen Anteil von 25 Prozent erreicht haben. Die Verfassungsrichter sahen darin keine Verletzung der Rechte der Weißen. Für die Reagan–Regierung hingegen war dieser Plan eine Form von „umgekehrter Diskriminierung“, die den von der Verfassung garantierten Gleichheitsgrundsatz - für Weiße - verletzt. Sklavenparagraph noch voller Brisanz Der Oberste Gerichtshof stützt sich auf das im 14.Verfassungszusatz enthaltene Gebot eines ordentlichen Gerichtsverfahrens (“Kein Staat darf einer Person ohne ordentliches Gerichtsverfahren Leben, Freiheit oder Besitz nehmen“) - ein Verfassungszusatz, der nach dem Bürgerkrieg verabschiedet wurde, um die freigelassenen Sklaven gegen Übergriffe des Staates zu schützen. Aus diesem Gebot eines ordentlichen Gerichtsverfahrens ergeben sich nach Meinung des Gerichts für die Einzelstaaten viele der Einschränkungen, die die Bill of Rights der Bundesregierung auferlegt. Auf Grund dieser „Inkorporations– Theorie“ - die Meese und auch Bork ablehnen - konnte es darauf bestehen, daß Einzelstaaten die Abtreibung erlauben müssen, Glaubens–, Versammlungs– und Redefreiheit gewährleisten und anderes mehr. Die Konservativen sind jedoch gespalten in Zentralisten und Föderalisten: Viele Konservative haben eine ausgesprochene Furcht vor der Macht des Staates, auf welcher Ebene auch immer, einschließlich der regionalen und der bundesstaatlichen. Der Republikaner William T. Coleman jr., ein Mitglied des Kabinetts von Präsident Gerald Ford, war gegen die Nominierung von Bork, weil dieser „das Recht des Einzelnen auf seinen persönlichen Freiraum, das Recht, in Ruhe gelassen zu werden“, dem Schutz der Verfassung entziehen würde. Die Meinung Colemans steht für Millionen durchaus konservativer Amerikaner. Sie sind der Überzeugung, daß die Bundesregierung gegenüber den Einzelstaaten zu stark geworden ist. Die Einschränkung der Regierungsgewalt ist beispielsweise das Hauptanliegen der „Libertarian Party“, einer Partei, die bei den Präsidentschaftswahlen von 1980 eine Million Stimmen bekommen hat. Doch Reagan und Meese werden sich wohl kaum Thomas Jeffersons Ansicht anschließen, daß „die beste Regierung die ist, die am wenigsten regiert“. Verfassung stagniert, Rechtsprechung floriert Es sollte nicht unterschätzt werden, welche Rolle der Oberste Gerichtshof bei der Entwicklung der Verfassung spielt. Der Jurist Laurence H. Tribe von der Harvard University stellte fest, daß es seit dem Amtsantritt von Präsident John F. Kennedy 1961 kaum einen Verfassungszusatz von Bedeutung gegeben hat. Das liegt vor allem an den immensen Schwierigkeiten, überhaupt einen Verfassungszusatz durchzubringen. Demgegenüber nehmen Entscheidungen der Richter seit 1961 entscheidenden Einfluß auf die Verfassung, obwohl sie den Wortlaut des Dokuments in keiner Weise verändern. Im Jahre 1961 - und nicht in den fernen Zeiten der Gründungsväter bleibt - gab die Verfassung den Bundesstaaten das Recht, Menschen zu verfolgen, die außerhalb der eigenen Rasse heirateten; Gerichtsverfahren selbst bei schwersten Verbrechen ohne Jury durchzuführen; Gebete zu verfassen, die in das offizielle Tagesprogramm öffentlicher Schulen aufgenommen werden konnten. Die Verfassung von 1961 sah vor, daß Frauen für jeglichen Schwangerschaftsabbruch und Eheleute für den Gebrauch von Verhütungsmitteln ins Gefängnis kommen konnten. Beamte der einzelnen Staaten wie des Bundes konnten ohne amtliche Genehmigung Telefone überwachen, und auf illegalem Wege beschafftes Beweismaterial konnte vor Gericht gegen einen Angeklagten verwendet werden. „Diese Aufzählung“, fügt Tribe hinzu, „hört sich zwar sehr nach Sowjetunion an, aber es sind die Vereinigten Staaten von Amerika und ihr Verfassungsverständnis von 1961!“ Wenn sich die Verfassung und damit auch der American Way of Life gewandelt hat, so geht das nicht auf Verfassungszusätze zurück, sondern auf die fortlaufende Interpretation zweier Verfassungsartikel durch den „Supreme Court“, häufig mit einer knappen Mehrheit von 5:4 Stimmen. Die Regierung Reagan hat alle diese Entscheidungen scharf kritisiert. Ein Konservativer mehr unter den Richtern könnte also dazu führen, daß die Verfassung im Jahre 1990 mehr Ähnlichkeit hat mit der von 1961 (oder von 1787, was die genannten Fälle betrifft) als mit der von 1987. Reagan und die Konservativen Amerikas haben eine gute Chance, das Rad der Geschichte auf die fünfziger Jahre zurückzudrehen, wo Recht und Ordnung herrschte, weiße Männer in der Wirtschaft den Ton angaben und politisch Andersdenkende verfolgt wurden. Washington, Madison, Franklin und die anderen, die 1787 in Philadelphia zusammenkamen, waren gewiß große Männer. Aber sie schufen auch eine Staatsform, in der die Sklaverei anerkannt war und nur begüterte weiße Männer das Stimmrecht hatten. Nur dank der Kämpfe der Bürgerrechtsbewegung konnte sich die Verfassung in den vergangenen 200 Jahren zu einem demokratischen Dokument entwickeln. Rede– und Glaubensfreiheit wie auch andere Grundrechte gibt es nicht deshalb, weil sie in der Verfassung stehen; sie stehen in der Verfassung, weil Menschen sich diese Rechte genommen und darauf gedrungen haben, daß sie in der Verfassung verankert werden. Übersetzung: Gertraude Krueger